Kisselhoff: DAS JUEDISCHE
VOLKSLIED (7)
Erschienen in: DIE
JÜDISCHE GEMEINSCHAFT. Reden und Aufsätze
über zeitgenössische Fragen des
jüdischen Volkes, herausgegeben von Dr. Ahron
Eliasberg, Berlin. Jüdischer Verlag, 1913, 22
S.
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XI Arbeiten zur Erforschung
des jüdischen Volkslied und Schluss.
Der quantitativ und qualitativ
so reiche jüdische Volksliederschatz ist eine
unversiegbare Quelle, aus der Dichter und
Komponisten den korstbarsten Stoff scöpfen
könnten. Trotzdem ist zu seiner Erforschung
bisher nur wehr wenig
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geschehen, nur vereinzelte
kleine Versuche. Einen kostbaren Beitrag bietet auf
diesem Gebiete die umfangreiche Sammlung
jüdischer Lieder von Marek und Günzburg,
die aber leider bisher sogar in den gebildeten
Kreisen, die sich für das Volkslieben
interessieren, wenig bekannt sind. Bei allen ihren
Vorzügen hat die Sammlung doch einen grossen
Fehler, und zwar denjenigen, dass in ihm
ausschliesslich die Worte, nicht aber die Melodien
(Noten) vorhanden sind. Nur am Ende des
verflossenen Jahres wurden 10 von diesen Liedern
durch den bekannten Musikkritiker und Komponisten
J. Engel umgearbeitet und veröffentlicht. Eine
grosse Anzahl Volkslieder wurde auch in der
Monatsschrift „Ost und West“
veröffentlicht.
Noch weniger sind die
Hochzeitslieder und die Chassidischen Lieder
erforscht, trotzdem die letzteren nicht nur von
grosser Wichtigkeit für das Verstandnis des
jüdischen Geisteslebens sind, sondern auch
neue Tonfärbungen in die Weltmusik
hineinbringen könnten. Und während die
russischen Komponisten (Rimsky-Korsakoff,
Musorgsky, sogar Glinka) häufig Stoff für
ihre Kompositionen in den jüdischen
Volksliedern schöpften, bleiben dieselben
für den jüdischen Künstler eine
terra incognita.
Nur in der allerletzen Zeit
ist im Judentum ein reges Interesse für die
Volksmusik zu bemerken. So wurden in Petersburg und
in vielen Provinzstädten Vereine
gegründet, die sich mit dem Studium dieser
verschlossenen Volkswerte abgeben. Diesen Vereinen
steht ein weites Arbeitsgebiet offen. Vor allem
sollen die vielen Schätze volkstümlicher
Musik, die in breiten Schichten des Volkes
verborgen sind, gesammelt und umgestaltet werden,
und so wird das jüdische Volkslied zu
derjenigen Kulturmacht emporwachsen, wie es bei
anderen Völkern zu sehen ist. Auf diese Weise
wird sich das Augenmerk der jüdischen
Künstler dem jüdischen Volkslied zuwenden
und so die jüdische Musik sich von den
primitiven Formen der Volksmusik bis zu den
entwickeltsten Formen der heutigen
europäischen Musik weiterbilden. Die Vereine
sollen auch das jüdische Lied in die Schule
einführen. Endlich steht diesen Vereinen noch
eine grosse Aufgabe bevor, und zwar die Schaffung
eines
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modernen jüdischen
Theaters, das zurzeit sich mit dürftigen und
schlechten Operetten ernähren muss. Alle diese
„musikalischen“ Erzeugnisse erfreuen
isch im Volke eines grossen Erfolges, trotzdem sie
weder in der Melodie noch im Texte etwas leidliches
bieten können, was ausschliesslich einem
gewissen volkstümlichen Element zuzuschreiben
ist. Daraus ist zu ersehen, wie gross dieses
Bedürfnis nach einem wirklichen guten und
jüdischen Theater ist.
Möge das jüdische
Volkslied eine ihm gebührende Stellung im
jüdischen Leben einnehmen und zugleich mit der
Literatur als geistiges Band dienen, das
sämtliche Teile des Volkes reinige und
verwebe. Gleich den anderen Völkern sollen wir
sagen können: „Das Volkslied vereint
uns.“
Anmerkung von MVU:
Die Anmerkungen wurden in der
Form von MVU verändert. Im Original ist es
eine Mischung aus Sternchen und arabischen Zahlen,
die an dieser Stelle unüberschaubar geworden
wäre. Wir hoffen, dass es so verständlich
ist.
Musik von unten 21. Febr.uar
2022.
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