Einleitung (S. V—VIII)
Auswahl der Lieder
Diese Auslese von
47 Liedern des Ostens erhält ihren
selbständigen Wert zulieb der
Tatsache, daß ein wohlfeiles und
in jedem Belang repräsentatives
jüdisches Volksliederbuch für
die praktische Benutzung, zumal durch
Westjuden, bisher nicht erschienen ist.
Das treffliche Petersburger
Liedersammelbuch, das jedoch einem
andern Ziel, der ostjüdischen
Volksschule, dienen wollte, ist bereist
seit Jahren vergriffen. alle anderen
populären Sammlungen haben der
Sache unseres Volksliedes mehr
geschadet als genutzt.
Grundlage waren
mir die Lieder, die ich selber Ostjuden
abgelauscht hatte, dazu habe ich das
gesamte bis heute gedruckte Material
herangezogen und verglichen. Bisher
noch nicht veröffentlicht sind die
drei schönen Gesänge Nr. 8, 9
und 21, die ich Jankew Seidmann
verdanke, und die chassidischen Lieder
Nr. 3, 5 und 6; diese sind mir von
Jankew Kargher, dem
Volksliedersänger und guten Kenner
rumänisch-chassidischer
Volksgebräuche, übermittelt
worden. Das übrige befindet sich,
zum Teil in erheblich anderer Fassung
als ich sie hier vorlege, in den
Sammelwerken der verdienstvollen
Forscher Ginzburg-Marek und Cahan,
sowie in den Ausgaben J. Engels und der
Petersburger Gesellschaft für
jüdische Volksmusik. Da nun
häufig die gleichen Lieder bei den
verschiedenen Autoren nicht
unbedeutende Abweichungen aufweisen, im
Text nicht minder als in der
Melodieaufzeichnung, mußte ich
immer wieder auf das Lied, wie es vom
Volke gesungen wird,
zurückgreifen, um das
Volkstümliche und Echte dem
Aufputz und der
„Verschönerung“
vorzuziehen. Das Grundsätzliche,
das den Plan dieses Buches bestimmte,
mag man in dem Merkblatt „Das
jüdische Volkslied (Schriften des
Ausschusses für jüdische
Kulturarbeit, Berlin 1919) nachlesen.
Dort finden sich auch die
unentbehrlichsten Angaben über die
ostjüdische Singweise, über
die technischen Behelfe für den
Westjuden, über die Sammelwerke,
die Einzelausgaben, über
Programme, Begleitungsart und über
weiteres Wissenswerte.
Zur
Melodieaufzeichnung
Einige Zeichen
für die Tonstärke und das
Zeitmaß werden in dieser Auslese
etwas ergiebiger verwendet, als es
sonst in derlei Ausgaben zu geschehen
pflegt. Ich hatte zu
berücksichtigen, daß diese
Lieder dem Westjuden fremdartig und
daß er ihren Rhythmus und irhe
Singweise nicht, wie beim deutschen
Lied, als natürliche Gabe aus der
Kinderstube mitbringt. Daher auch die
häufige Verwedung von Luftpausen:
V, um das charakteristische
rezitativartige Singen vieler Stellen
nicht ganz der Willkür des
ungeübten und oft ratlosen
Benutzers zu überlassen. Aus
demselben grunde wurden manchmal
einzelne Takte aus Strophen, in denen
die Verteilung der gehäuften Worte
auf die einzelnen Zeitmaße
schwierig ist, noch besonders
beigefügt. Das Prinzip, die
Melodie stets nur für die erste
Strophe hinzusetzen, ist dort
durchbrochen, wo das musikalische Bild
der späteren Strophen sich
bedeutend erweiterte; solches geschah
in den Liedern Nr. 7, 9, 20, 21, 38.
Der Lautensatz ist
in vereinfachter strenger Form notiert.
Er will den geübten Spieler, der
imstande ist, sich selber den
begleitenden Ausdruck zu gestalten,
nicht binden, aber dem Anfänger im
Lautenspiel und in der Melodik des
jiddischen Liedes das Experimentieren
ersparen.
Die intime
Atmoshäre vieler dieser Lieder
verlangt streng nach dem Einzelgesang.
Jedoch in den Liedern mit
refrainartigen Wiederholungen,
insbesondere in Nr. 1, 5, 6, 9, 20, 21,
30, 47 halte ich das allmähliche
Einsetzen und die Beteiligung weitere
Stimmen für zulässig. Im
übrigen sei es Grundsatz, bei
jeder Gelegenheit zu noch wurzelhaften
Ostjuden in die Schule zu gehen und
sie, nicht so sehr im Konzertsaal als
im vertrauten Kreis, singen zu
hören.
Zur Benutzung der
Transkirption
Für den
Ostjuden hat der in der linken Spalte
jeder Seite stehende Antiquatext keine
Geltung, so wenig, wie die
vereinfachte, dem Jiddischen
angepaßte Schreibung der
hebräischen Worte; dem Westjuden
gibt er die einzige Handhabe, diese
Lieder annähernd richtig zu
singen. Auch dann, wenn er mähelos
die Quadratschrift zu lesen versteht,
darf er sich zunächst nur an die
gebotene Transkription halten. Um diese
richtig zu verwenden, präge er
sich die Aussprachezeichen gründlich ein. Diese Zeichen
stellen eine Vereinfachung der
verdienstvollen praktisch-phonetischen
Aufstellungen Salomo Birnbaumr dar.
Für die sechs Hauptklänge,
nach denen sich die
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beiden
großen Dialekte des Jiddischen
utnerscheiden, werden also hier sechs
optisch in ihrer Bedeutung leicht
erkennbar Schriftzeichen
eingeführt:
u - i - ôi -
oú - á - æi.
Der untere Teil
dieser neutralen (d. h. für beide
Dialekte geltenden), zusammengesetzten
Buchstaben gibt die Aussprache für
den (polnischen =) u-Dialekt an; der
obere (und im Zeichen æi der
mittlere, das e) entspricht der
Aussprache im (litauischen =)
o-Dialekt. Die dritte ài-Mundart
der südrussischen und eines teiles
der galizischen Juden ist der
Vereinfachung wegen
unberücksichtig geblieben.
In der
Transkription ist also:
…
Für das
jiddische ch = ... ist auf ein
besonderes Zeichen verzichtet worden,
obwohl gegen die Aussprache dieses
typischen östlichen Lautes von
Westjuden meistens verstoßen
wird. Der Leser sei daher
beständig aufmerksam und
eingedenk, daß ‚ch’
im Jiddischen niemals, auch nicht am
Wortanfang,
wie in den deutschen Wörtern
‚ich’, ‚Licht’,
‚Hündchen’
ausgesprcohen wird, sondern stets als Kehllaut wie ich
‚acht, lachen’.
Weiter sei
bemerkt, daß a = $ niemals wie in
‚fahren’, sondern immer
gespannt wie in ‚Hacke’
gelesen wird; e = ? oder ... niemals
wie in ‚ledig’ sondern
stets wie der ä-Laut in
‚Hetze’; o = ...
Der originale
jiddische Satz ist ebenfalls
systematisch angelegt; insbesondere
entspricht die Punkttation (...) genau
den Transskriptionszeichen (? - i -
ôi - oú - á -
æi), so daß nach einger
Einübung des transkribierten
Textes, die aber immer wieder und sehr
gründlich vorgenommen sein will,
mühelos zur Benutzung der
Quadratschrift übergegangen werden
kann. Man beachte dabei aber besonders
den Unterschied zwischen ....
Auch darf der
Leser sich nicht daran stoßen,
daß für den deutschen b-Laut
ständig ... ohne ...
S. VIII
erschienene
„Jiddische Grammatik“ von
Salomo Birnbaum (188 Seiten, gebunden
nur 2 Mark, Verlag A. Hartleben, Wien
1919), eine sehr erfreuliche und solide
Arbeit, verwiesen.
1. Religiöse
und Chassidische Lieder
Bei den Juden
fällt es schwerer als bei
europäischen Kulturvölkern,
aus der Fülle der Volkslyrik so
etwas wie eine besondere Gruppe
„religiöser“ Lieder
auszusondern. Denn während das
Religiöse im Volkslied Jener nur
eienn begrenzten Bezirk hat, ist es bei
den Juden die weitumfassende
Landschaft, in der fast alle diese
Dinge wurzeln: die meisten (selbst
Kinder-, Handwerker- und
Soldatenlieder) in ihrem Inhalt ganz
offenkundig, sogar die Liebeslieder
häufig in ihrem Musikalischen.
Auch die Abgrenzung des religiösen
Volskliedes gegen die liturgischen
(synagogalen) Gesänge ist nicht
immer leicht. Zu viele davon sind bei
dem zwanglosen Neben- und Ineinander
von „schil“ und weltlichem
Getriebe in das Alltagsbewußtsein
der Massen fest einbezogen worden. Hier
rühren wir an die entscheidenden
Zusammenhänge. Wie begabt sich
selbst heute noch der Ostjude als
Kollektivum für das Erfinden von
Liedern und Melodien erweist - niemals
hätte unser Volk in wenigen
Jahrhunderten die bedeutenden und
mannigfachen Typen des weltlichen
jiddischen Lieds durch tausende
beachtenswerter Einzelschöpfungen
hervorgebracht, wenn nicht vorher die
langen Jahrhunderte hindurch seine
Organe für Sage und Legende,
für Sitte und Bildhaftigkeit,
für Tonart, Rhythmus und Melodie
aus dem Zentrum einer riesenhaften
Religiosität gerichtet,
genährt und endgültig geformt
worden wären. Um daher ein
natürliches Verhältnis zum
jiddischen Volkslied allgemein und zu
seinem gesteigerten Ausdruck in den
entscheidenden Ausprägungen
wahrzunehmen suchen, bis man erkennt,
wie hier jede Äußerung
weltlicher Freude und Trauer - von der
Hochzeit bis zum Tode - gebettet ist in
religiöse Formen und Inhalte.
Desgleichen soll man sich bemühen,
die musikalische Urform und den Quell
dieser volkslieder dort aufzusuchen, wo
sie, noch immer altertümlich und
von der Tradition vor Vermischung
geschützt, sich noch heute
darbieten: in den Lehr- und
Gebethäusern des jüdischen
Ostens. Der Westjude wird dort
Schätze entdecken, die er,
abgestoßen von dem
gleichgültigen Klang
deutschjüdischer Kantorenmelodien,
niemals vermutet hätte.
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