Jugendbewegung
Großfahrt;
Der Wandervogel
Seit 1896 trafen sich Berliner
Schüler um an dem Studienkreis für
Kurzschrift des Studenten Hermann Hoffmann an der
Steglitzer Oberschule teilzunehmen. Darüber
hinaus begann Hoffmann die Jungen für das
unkonventionelle Wandern und ein bewusstes Erleben
von Natur zu begeistern. Nachdem Hoffmann 1899
seinen Studienort wechselte, übernahm Karl
Fischer die Leitung der Gruppe und führte
einen neuen Stil ein. Die Gruppe hatte jetzt einen
eigenen Gruß („Heil“), einen
Erkennungspfiff und die Kleidung entwickelte sich
zu einer besonderen Tracht. Dem Vorbild des
fahrenden Scholaren des Mittelalters (Bachant)
folgend wurde Fischer „Oberbachant“.
Wer neu zur Gruppe stieß, begann mit dem Rang
des „Scholaren“, wurde zum
„Burschen“ und später zum
„Bachanten“. Vor allen Dingen aber
gebührt Fischer das Verdienst, Lehrer,
Seminaristen und sympathisierende Intellektuelle
für diesen Gedanken zu begeistern. Diese
gründeten einen Verein („Wandervogel,
Ausschuss für Schülerfahrten“) und
boten somit den Schülern eine organisatorische
Heimat, was während der Zeit des Kaiserreichs
einer Sensation gleichkam. Die Idee motivierte
Gleichgesinnte im ganzen Reich, so dass bis zum
ersten Weltkrieg verschiedene Einzelgruppen und
Verbände (teilweise konkurrierend) zu einer
Jugendbewegung heranwuchsen, die sich selbst den
Namen „Wandervogel“ gab. In ihr
sammelten sich die unterschiedlichsten
Interessengruppen, wie Reformpädagogen oder
Abstinenzler. Die typisch deutsche Form des
jugendlichen Protests fand lediglich verwandte
Ableger in der Schweiz und in Österreich.
Die damalige bürgerliche
Jugendbewegung hatte durchaus emanzipatorische
Tendenzen wie ihre Opposition gegen die
verkrusteten „Erwachsenen Welt“,
gemeinsames Wandern von Jungen und Mädchen
oder pädagogische Reformen zeigen. Sie
unternahmen Wochenendwanderungen in die nähere
Umgebung und größere Ferienfahrten ins
gesamte Reich bis ins (bevorzugt nordische)
Ausland. In ihrem Vereinsraum, dem heimischen
„Nest“ veranstalteten sie
Unterhaltungs- Spiel- und Singabende (z.B. die
Gruppe um den Lautenspieler Richard Möller)
und mieteten oder kauften Landheime im Umland. So
baute der Hamburger „Altwandervogel“
(AWV) 1909 das erste Landheim in Handeloh (45 Km
von Hamburg) und der „Wandervogel
Jugendwanderbund in Hamburg“ mietete sich
1913 ein Landheim in Curslack. Entweder dort oder
auf ihren Fahrten feierten sie die üblichen
traditionellen Feste und belebten die
Sonnenwendfeiern als „urgermanisches“
Relikt neu. Über das 8. Sommersonnenwendfest
des AWV 1914 bei Volksdorf schreibt der Chronist
Walter Gerber: „Es versammelten sich mit den
Eltern 8 Knaben- und 2 Mädchenhorden am
Sonnabend. Dann ging es im Fackelzuge zum
Festplatze. Baron v. Westenholz hielt die Feuerrede
(...) Entflammen des Holzstoßes bei dem
gemeinsamen Liede ‘Flamme empor’,
Feuerreigen, Volkstänze und dann Abrücken
in Bleiben. Am Sonntagmorgen versammelte man sich
zu einem Thing, danach Tanz auf der Festwiese in
Wohldorf.“ Neben derartigen
Festveranstaltungen waren die Fahrten von
„Hordenkochen“, Schnitzeljagd oder
Kriegsspielen geprägt.
Besonders die Wiederentdeckung
von deutschem Volkslied und -Tanz prägte den
Wandervogel. Von den vielen Liederbüchern, die
aus dieser Zeit stammen wurde der
„Zupfgeigenhansl“ (1908 ff.) von Hans
Breuer das berühmteste, das noch heute
gehandelt wird. Regionale Heftchen wie das
„Nedderdütsch Leiderblad“ (1911),
die „Thüringer Volkslieder“ (1915)
und Julius Blasches Aufruf zur Wiederbelebung des
Volkstanzes von 1911 demonstrieren neben einem
Volkmusikalischen Interesse die allgemeine
Heimatbesinnung jener Zeit, die nicht selten ins
Tümelnde geriet (mit Tendenzen zu Germanenkult
und Antisemitismus) und meist Nationalistisch
geprägt war. So ist es kein Zufall, daß
gerade die Mitglieder der Jugendbewegung begeistert
und mit hellem Gesang in den Ersten Weltkrieg zogen
aus dem die meisten nicht mehr zurückkehrten.
Nach dem Krieg begann die Zeit der Bündischen
Jugend.