Vagabundenlieder

Der Vagabund hat viele Namen. Sich selbst bezeichnet er als Kunde oder Monarch. Andere nennen ihn auch einen Wanderbettler. Wieder andere sagen einfach Gauner zu ihm und irgendwie gehören auch Handwerksburschen in diese Kategorie, das hängt allerdings von der Zeit ab, die sie bereits auf der Straße leben. Die Kundenkultur bestand grob gesagt in der Zeit von ca. 1860 bis 1933. Mit den Nationalsozialisten wurde sie gewaltsam beendet.

Nach L. Günther 1919 gehört das Wort Kunde im Sinne von „wandernder (und ‚fechtender') Handwerksbursche" zu unserem deutschen Zeitwort „kennen", bedeutet also - ebenso wie ursprünglich Kunde im heutigen geschäftlichen Sinne - eigentlich „Bekannter". Arnulph Rentsch schrieb in den 1890er Jahren: ein Kunde „will jetzt jeder noch so grüne Handwerksbursche sein. Nun, diese Ehre (?) wird ihm Niemand abstreiten. Diese sind die Kunden von „neuem Schrot." Früher hingegen pochte eine gewisse Klasse - weitgereiste Handwerksburschen, welche das „Walzen" und seine Freuden und Leiden durch und durch kannten und zum Theil aus dem Fechten ein Geschäft machten - auf dieses Vorrecht. Dies sind jetzt die Kunden von „altem Schrot."

Anders als heutige Nichtsesshafte und zu allen Zeiten existierende Arme oder Bettler, zogen sie von einem Ort zum andern. Viele waren ehemalige Handwerksburschen, die den Zeitpunkt ins bürgerliche Leben zurückzukehren verpasst hatten. Sie versuchten sich durch Saisonarbeit und Bettelei (dem Fechten) am Leben zu halten. Dazu kamen Wanderarbeiter nicht nur aus Deutschland.

Damals gab es noch Kunden, die gesungen haben. Und es gab ehemalige Handwerksburschen, Kunden oder
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Abenteurer, die sich autobiographisch zu ihrem Leben auf der Straße äußerten. Doch auch Chronisten jener Szene haben der Nachwelt aufschlussreiche Details überliefert. Die wichtigste Quelle bezüglich der Liedkultur stammt von Hans Ostwald, einem Uhrmacher und späterem Literaten und Forscher zum Leben der Unterschichten, und heißt: „Lieder aus dem Rinnstein". Ein kleines dreibändiges Werk, das zwischen 1903 und 1907 erschienen ist. Von ihm und seinen Erinnerungen werden wir vieles zu hören bekommen.

Informationen aus dem 19. Jahrhundert überlieferten uns auch D. Rocholl, A. Rentsch, Wilhelm Kayser, Josiah Flynt Willard oder der Österreicher Ferdinand Hanusch. Aufschlussreich und sehr bildlich sind die Darstellungen des Fehmarner Heimatforschers Peter Wiepert.

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gab eine Szene von Intellektuellen, Literaten und gescheiterten Existenzen, die sich dem Thema mehr aus literarischer Sicht annahmen. Dazu gehörte neben Margarete Beutler, Martin Binde, Else Lasker-Schüler, Martin Drescher, Peter Hille, Otto Krille, Herrmann Conradi, Erich Kurt Mühsam oder Leo Greiner auch Emil Nicolai, der mit einem Gedicht vertreten sein wird.

Aus den 1920er Jahren berichtete Joachim Rügheimer, ein Journalist, der über das Leben auf der Straße schreiben wollte und dafür selbst einige Monate durch Deutschland walzte. Aus jener Zeit stammt auch ein kleines Liederbuch von Hans Reinhardt mit dem Titel: Der Tippelbruder. Dort wurden teilweise neue Lieder dokumentiert, teilweise Texte, die Hans Ostwald gesammelt hatte erweitert oder um die Melodien ergänzt. Die Melodien herauszubekommen ist häufig am schwersten.

In jenen Jahren wurde es zunehmend politisch. Eine „Bruderschaft der Vagabunden" versuchte, dem Leben der Kunden gar eine philosophisch-politische Basis zu verleihen.

dufter Kunde - Nach A. Rentsch sind es „die leichtlebigen Kunden, welche nach dem Grundsatz ‚was getalft wird, wird verschmort’ vor dem Abwandern noch in der Stadt ihre ‚getalfte Asche’ aufgeben lassen”.

Was ist ein dufter Kunde? 
Ein dufter Kunde ist ein
von Hause fortgehendes,
vor fremden Türen stehendes,
in der Penne flüchtendes,
Bienen züchtendes,
Soroff schwächendes,
mit Boschern blechendes,
arbeitsuchendes,
Keiloffe verfluchendes,
Tappen holendes,
den Gallach verkohlendes,
Klinken putzendes,
den Schinnagel nichts nutzendes,
das Kaff abtanzendes,
linke Zinken pflanzendes,
den Schlummerkies verfuselndes,
in der platten Penne duselndes,
mit Putzern raufendes,
den Schuckern entlaufendes,
die Schmiere hassendes,
sich verpflegen lassendes,
mit Hanf sich labendes
linke Tritte habendes,
im Kittcdhen hockendes,
Hennen verlockendes,
Krauter anschmierendes,
Charakter verlierendes,
nach Fusel stinkendes
im Elend versinkendes,
oft nasenbläuliches und arbeitsscheuliches,
Durch Kohldampf in Bewegung gesetztes Individium.

Aus dem armen Teufel. R. E.
(nach Hans Ostwald, Rinnsteinlieder Bd. 3, S. 39f.)
Die Aufarbeitung der Vagabunden- bzw. Kundenlieder ließ lange Zeit erheblich zu wünschen über, was sicherlich nicht zuletzt an der Liedforschung in Ost und West lag. Während im Westen die Liedforschung nach anfänglicher Ignoranz erst im Zuge der 68er bzw. des Folkrevivals der 1970er Jahre ein wenig in den Focus geriet. Nicht vergessen wollen wir natürlich das Verdienst, das sich Peter Rohland durch seine Aufarbeitung der Landstreicherballaden in den frühen 1960er Jahren erworben hat (Thorofon Folk-Song LTHK 151-5).

In der DDR dagegen wurde dieser Szene mit Verachtung und Ignoranz begegnet (Interessierten wurden die Bücher einfach verweigert). Beispielhaft erwähnt sei noch Wolfgang Steinitz, der vielen Bereichen vorbildlich war:

„Ausgeschlossen bleiben ferner ‘Rinnsteinlieder' und Lieder des Lumpenproletariats, der Bettler, Vagabunden, Dirnen usw., die zwar auch Opfer der Klassengesellschaft sind, aber nicht zum werktätigen Volk gehören.

In der Fußnote führt Steinitz nach Ditfurths Fränkischen Lieder II Nr. 367 "als Probe" das Lied:

1. Bin einstmal betteln gangen
Wohl in die große Stadt;
da kam der Bettelbeuter (Bettelvogt),
der grobe Bärenhäuter,
hat mich gleich attrapiert
und auf das Amt geführt.

2. Als ich vors Amte kam,
da stund ich wie ein Lamm;
Besinn' mich hin und her,
weiß nicht, was ich sagen wird'.

3. "Kein Herr kann ich nicht werden,
es gibt zu viel auf Erden;
bin halt ein alter Mann,
der nichts als betteln kann."

Schon im Wunderhorn erscheint das Lied vom Bettelvogt, das nach Schade, Handwerkslieder, S. 222f. "häufig von Gesellen und jungen Handwerksmeistern in Weimar gesungen" wurde und scharfe Strophen gegen den "alten Schindersknecht" enthält, der auch die wandernden und fechtenden Gesellen schilkanierte.

Auch Lieder im Kundenjargon wie „Kunde, willst du talfen gehn, Laß mich erst dein Fleppchen sehn, Ach wie ist das Walzen schön, Wenn man brav kann talfen gehn" (Böckel, Oberhessen Nr. 96) sind nicht aufgenommen, da sie, trotz einiger oppositioneller anklägerischer Strophen, im allgemeinen den Gesichtspunkt des Lumpenproletariats repräsentieren.“

Text ©: Werner HInze


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