Lied der Verbannten
1. Nach Sibirien muß ich jetzt reisen
Muß verlassen die blühende Welt.
Schwer beladen mit sklavischem Eisen
Harren meiner nur Elend und Kält’!
O Sibirien, du eiskalte Zone,
Wo kein Zephir die Fluren beglückt,
:,: Wo kein Funke der Menschheit nur wohnet,
wo das Aug’ keine Hoffnung erblickt! :,:
2. Von den Meinen gewaltsam gerissen,
von den Meinen gewaltsam getrennt!
Kann im Leben sie nimmermehr küssen,
die mich Vater, mich Gatten genannt!
Ach, wer trocknet den Meinen die Tränen,
Die die Liebe der Unschuld geweint!
:,: Mit der Rache will ich mich versöhnen,
nenne mir, o Geschick, solch einen Freund! :,:
3. Wenn ich nun in den Orkus muß steigen,
von der Sonn’ in die finstere Nacht,
wo beim Glanze von schimmernden Leichen
sich die Menschheit einander betacht’,
o, dann schau ich noch einmal hienieden
nach der Heimat, noch einmal zurück!
:,: Ist mir dennoch die Hoffnung geblieben
auf die Freiheit, mein einziges Glück! :,:
Eine religiöse Variante
1. Nach Sibirien muß ich einst reisen,
muß verlassen die blühende Welt.
Schwer beladen mit sklavischen Eisen
Harret meiner dort Elend und Kält’.
Ja, dort unter den schrecklichen Zonen,
wo kein Schiffer die Fluten durchzieht,
:,: Wo kein Funke der Menscheit mehr wohnet,
wo das Aug’ keine Hoffnung mehr sieht. :,:
2. Von den Meinen gewaltsam gerissen,
von den Meinen gewaltsam getrennt,
muß ich wandern durch dieses Gefilde,
wo kein Wandrer die Schritte hinlenkt.
Einmal noch will hinüber ich schauen
In die goldne Vergangnehit z’rück,
:,: Mir ist nich[s] als die Hoffnung geblieben,
nur die Hoffnung mein einziges Glück. :,:
3. Drum so will ich auf Gott stets vertrauen,
will wohl wandern in mein Heimatland,
niemal wird’ ich die Meinen mehr schauen,
die mich oft haben Vater genannt.
Die ich oftmals im Stillen geweint.
:,: Mit der Rache will ich mich versöhnen,
bis das Schicksal mir schickte einen Freund. ::
Nach Wolfgang Steinitz Bd. 2, Nr. 244, S. 297
(Version E) mit der Erklärung:
Aus Allenbach (Hochwald) und anderwärts,
1894. Aus dem handschriftlichen Nachlaß von Franz Magnus
Böhme.
Geschichte / Kommentar:
Das Lied befand sich in mehreren
Liederbüchern der Organisierten Arbeiterbewegun des 19. Jh. John
Meier, KiV Nr. 503, sagt zur Herkunft: „Verfasser? Lied des
Verbannten ‚Nach Sibirien muß ich jetzt reisen’
für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte von Robert Riediger. Verlag von
Herm. Augustin, Berlin. Nach freundl. Mitteilung des Verlegers ist das
Lied eine Originalcomposition und schon vor etwa 20 Jahren [d. h. ca.
1880] erschienen.“
Wolfgang Steinitz (Bd. 2, S. 294-300), der das
Lied ausführlich beschreibt meint dazu:
„Da das Lied um 1880 von einem Berliner
Musikverlag herausgegeben wurde, möchte man zuerst an die
Deportationen russischer Revolutionäre Ende der 70er Jahre, im
Zusammenhang mit dem Aufschwung der russischen revolutionären
Bewegung denken. Aber irgendein Hinweis auf politische Momente fehlt.
Es schein mir schwer vorstellbar, daß ein Verfasser von dem
ergreifenden Kampf der Revolutionäre gegen den Zarismus einerseits
zu einem Gedicht inspiriert worden sei, andererseits aber zu einem
solchen!“
Steinitz verweist außerdem auf die
sogenannten „Polenlieder“, da das Thema „Die Polen in
Sibirien“ in mehreren Polenliedern deutscher Dichter behandelt
worden ist.
Bei den unterschiedlichen Versionen, die Steinitz
aus dem Material des Ostberliner Arbeiterliedarchivs zitiert sind am
häufigsten die Strophen eins und zwei im Volks gesungen bzw. von
den Informanten erinnert worden. Die dritte Strophe war vielleicht zu
künstlich. In zumindest einem Fall wurde eine dritte Strophe mit
religiösem Kontext neu dazu gefügt.
Wir haben nur einen Beleg für die Nutzung des
Liedes in der Weimarer Zeit mit den Strophen 1 und 2 im
Arbeiter-Kampfliederbuch von Paul Schmidt. Ob man hier schon von
Stalins Verbrechen ablenken wollte, ist nicht zu beurteilen.
Quellen:
19. Jh.
Arbeiter-Liederbuch. 21. Auflage. New-York 1894,
S. 7
Nach Steinitz:
Sozialdemokratische Lieder und Deklamationen, 18.
Aufl.,, 1892, S. 52.
Liederbuch für das arbeitende Volks 2. Aufl.,
London 1891, S. 82.
Der freie Sänger. Eine Sammlung soz.-dem.
Lieder und Deklamationen. 21. Aufl., New York. 1896, S. 11.
Hans Ostwald
KPD in der Weimarer Republik
Arbeiter-Kampfliederbuch. Verantwortlich für
den Inhalt Paul Schmidt, Berlin R 54, Zehdenickerstr. 5, Druck und
Verlag: Paul Schmidt, Berlin N 54. Ca. 1930, Nr. 26, S. 25.
Siehe: Wolfgang Steinitz Bd. 2, Nr. 244, S.
294-300