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„Muß verlassen die blühende Welt ... 
[Liederlebnis von Hans Ostwald]

Der Herbst kam über uns. Wir waren bis in die schlesische Webergegend gekommen. Der Badenser wollte versuchen, hier die Grenze zu überschreiten. Die Kunden hatten uns abgeraten, in die Webergegend zu gehen. Sie sei zu arm. Man müßte hungern, wenn auch die Weber ihr Essen mit den Anklopfenden teilten - satt werde man bei ihnen nie.

Die letzte Nacht unseres Beisammenseins verbrachten wir in einem Gasthof der Weberdörfer, die sich meilenlang die Vorstufen des Gebirges hinaufziehen - die alten Weberbaracken von Fabrikkasernen überwuchert. Vor uns aus dem Regen kamen getragene Töne von einer Mädchenschar: „Muß verlassen die blühende Welt! ...”

Und am Abend im Gasthof hörten wir sie wieder. Sie saßen dicht beieinander in einer halbdunklen Ecke, hatten ihre Tücher fest über Kopf und Schultern gezogen - die Augen von Sehnsucht verschleiert und den Mund klagend geöffnet: „Muß verlassen die blühende Welt.” - - Die Kunden schwiegen still und sannen duster vor sich hin. Einer, der krampfhaft wahrend des Gesanges gepafft hatte, fragte gereizt die Mädchen:

„Na, warum verlaßt ihr denn eure schöne Welt, euer Weberkaff?”

Die Mädchen antworteten nicht, scheu rückten sie näher zusammen in ihrer Ecke. Den Kunden hatte das Lied so erregt, so zornig gemacht, daß er auf sie eindrang: „Warum?

Warum! - - Wenn ihr keine Arbeit mehr habt - warum sucht ihr euch keine Schätze?”

Eine antwortete schnippisch: „Weil ma keene wulle!”

Und sie rückten noch enger zusammen. Eine Ältere meinte freundlicher: „Nu, was sull’n ma denn oock anfange? In dam Neste hat ju keens nich vun da Mannsleut a Böhm iebrig for a Mädel. Un man hat duch uch a Magen. Un das is halt da schwere Not, ju, das is da schwere Not!’

Nach einer Weile sangen die Mädchen wieder. Es war ein anderes Lied, aber es klang wie - muß verlassen die blühende Welt! - - Die Kunden wurden von dem Gesang aufgeregt und empfindlich für die geringsten Beleidigungen. Ganz verzweifelt und leidenschaftlich schlugen sie einander und tranken bald darauf wieder Brüderschaft. Jener, der die Mädchen angeschrieen hatte, suchte verstört nach einem, der ihn mittrinken lasse. Keiner wollte mit ihm was zu tun haben.

„Mensch, du warst ja schon in der linken Winde!”

‘Na, is das etwa ne Schande?’

‘Nee, aber du wirst bald wieder `nein kommen.’

‘Na, was kann ich denn dafür? Es will einen ja kein Mensch, wenn man in der linken Winde war ... Laß mich doch mal an der Pulle lecken - bloß mal `n bisken lecken ... Die verfluchten Weibsen mit ihrem Gesang. Da wird man ganz hin ... Laß mich doch mal an der Pulle lecken!’ (...)

Der andere, ein junger, aber abgerissener Mensch, gestand schüchtern ein, daß er schon länger als sechs Monate unterwegs, daß seine Arbeitszeugnisse verfallen seien. Dann wendete er sich an den Flebbenfabrikanten: ‘Kannst mir auch mal `ne neue Flebbe machen. Aber mit Ei!’

‘Ja, denn hol man eins. Ich trink`s aber aus!’

Der Kunde brachte ein Ei. Nachdem der Flebbenfabrikant es ausgesogen, schnitt er es vorsichtig auf, zog die innere Haut von der Schale, drückte damit von einem alten Schein einen echten Stempel ab und übertrug ihn auf einen Korrespondenzbogen einer größeren Fabrik. […]

Der Flebbenfabrikant hatte nervös bei der Arbeit gezittert:

‘Die Frauen singen immer noch! ... Na, heut kann ich mir ja mal was leisten - zwee Flebben - eene mit Ei - dafor jibt`s fufzig Poscher!’

Er saß bald wieder vor einem Schnapsglase, weit vornübergebeugt. Neben ihm saß der ‘ältere Kunde, der sich die Flebbe mit Ei hatte machen lassen - ich - ich selbst. Ich feierte Abschied vom Kaufmann und schloß neue Brüderschaft mit dem Flebbenfabrikanten, der mich nach Oberschlesien in die Industriegegend mitnehmen wollte, wo es viel zu holen gebe. Mein neuer Tippelbruder lauschte mit Tränen in den Augen dem Gesinge der Mädchen, die wieder anstimmten: ‘Muß verlassen die blühende Welt’ - - (Ostwald, 1928, S. 182ff.)

(Siehe auch: Werner HInze, Lieder der Straße (Liederbuch und Lexikonlesebuch), Hamburg 2002)


Ostwald, Hans (1873-1940) - Der „deutsche Gorki“ (Wiener) „wurde als Sohn eines Schmiedes am 31. Juli 1873 im Berliner Norden geboren, verlebte seine Kindheit in Stargard i. Pom., wo er die Bürgerschule besuchte, lernte 1887-1891 in Berlin Goldschmied und ging nach längerer Arbeitslosigkeit 1893 auf die Walze. Schon lange mit schriftstellerischen Arbeiten schwanger, erlebte er die ganze Lust und  die  Last  der  Landstreicherei  am  eigenen  Leibe. Hier und da für einige Zeit Arbeit  findend, durchtippelte er nach und nach ganz Norddeutschland, wurde 1896 von Felix Hollaender für die Literatur entdeckt, schrieb schon damals seine ersten Studien und Szenen aus der Tiefe des Lebens und veröffentlichte 1900 den ersten und echten deutschen, halb autobiographischen Landstreicherroman: ‚Vagabonden’. Diesem Werke, das unsere Kultur von unten beleuchtet, folgten [aus Passagen der ‚Vagabonden’] 1901: ‚Die Tippelschickse’, eine Bühnenszene; 1902: „Verworfene”, eine Novellensammlung; 1903: ‚Die Bekämpfung der Landstreicherei, Darstellung und Kritik der Wege und Mittel, die zur Beseitigung der Wanderbettelei führen’.“ (Selbstbiographie in „Lieder aus dem Rinnstein“, Bd. 1, S. 170)

Zwischen 1903 und 1906 gab er die „Lieder aus dem Rinnstein“ heraus, eine Anthologie von Liedern und Gedichten der Vagabunden, Huren und anderer Leute von unten, die er zum größten Teil während seiner Zeit auf der Walze gesammelt hatte. 1906 folgten die Monographie Landstreicher, eine Darstellung der Subkultur der Vagabunden, und Rinnsteinsprache. Lexikon der Gauner-, Dirnen- und Landstreichersprache. Ostwalds zweiter publizistischer Schwerpunkt - die Prostitution - schlug sich 1905 - 1906 in dem fünfbändigen Werk „Das Berliner Dirnentum“ nieder. Es gelang ihm, ab 1904 die Schriftenreihe „Großstadt-Dokumente“ zu initiieren und herauszugeben, die mit fünfzig Bänden und Autoren wie Magnus Hirschfeld und Anton Weidner große Beachtung fand. Ostwald selbst schrieb u.a.: „Berliner Tanzlokale“, „Dunkle Winkel in Berlin“ und „Zuhältertum in Berlin“. Bis zu seinem Tode publizierte Ostwald noch die kultur- und sittengeschichtlichen Arbeiten „Die Berlinerin, Kultur- und Sittengeschichte Berlins“ (1921), „Der Urberliner Witz, Humor und Anekdote“ (1928),  „Sittengeschichte der Inflation - Ein Kulturdokument aus den Jahren des Marksturzes (1931) und gab Bücher des sozialkritischen Zeichners Heinrich Zille („Das Zillebuch“, 1929 und „Zilles Vermächtnis“, 1931) heraus.

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Quellen: 

Werner HInze, Lieder der Straße (Liederbuch und Lexikonlesebuch), Hamburg 2002


im e.V.
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