Musikalische Tradition der
Arbeiterbewegung (2)
2. Die Phase von 1864 - 1878
(2)
Liederbücher und
Flugblätter
Johann Most war auch einer der
ersten Herausgeber eines Liederbuches für die
Arbeiter. 1871 erschien erstmals sein Neuestes
Proletarier-Lieder-Buch von verschiedenen
Arbeiterdichtern. In seinen Memoiren erinnert er
sich klagend an seine ersten Begegnungen mit der
Arbeiterbewegung in der Schweiz im Jahre 1867:
„Ich war den Uebrigen an
Mutterwitz auch nicht gerade besonders
überlegen; aber so viel hatte ich in der
Daseins-Schule doch schon aufgeschnappt, dass
ich solche Quatschologie für äusserst
beschämend halten musste und daraus auch ganz
und gar kein Hehl machte. Ebensowenig vermocht ich
dem üblichen Gesinge einen besonderen
Haut-gout abzugewinnen. Man hörte
fortwährend von der ‘lieben Heimath, in
der es schön’ sein sollte, von einem
‘Brunnen vor dem Thore’, von der
‘heiligen Nacht’, vom ‘lieben
Gott’, der ‘durch den Wald’ geht
und ähnlichem Schnickschnack dermassen
gröhlen, dass man leicht begreifen konnte,
warum und wieso sich die Vereine gegen
Thierquälerei rapid vermehrten. Ich
fühlte instinktiv, dass ein Arbeiter-Verein
einen ganz anderen Beruf haben sollte, als die
Pflege von geleiertem Gefasel und gefaseltem
Geleier; ich deutete das auch an, wusste aber
selbst nicht Rechtes vorzuschlagen bis ich
vermöge eines zu La Chaux de Fonds, einem etwa
eine Wegsstunde von Locle entfernten Grossdorf von
damals 40.000 Einwohnern, stattgehabten grossen
Arbeiterfest, zu dem auch viele Auswärtige, so
z.B. die Mitglieder des Lockler Vereins, erschienen
waren, den richtigen Pusch ins correkte Fahrwasser
erhielt.
In La Chaux de Fonds war
einige Zeit zuvor eine Sektion der
‘Internationalen Arbeiter-Association’
entstanden und zwar jene, welche später den
Kern der anarchistischen
‘Jura-Föderation’ bildete. Aus
derselben gingen als bald diverse feurige Redner
hervor, welche es verstanden die moderne
Gesellschaft drastisch zu geisseln und mit
Begeisterung die soziale Revolution zu herolden.
Dieselben benützten auch den guten Besuch des
obgedachten Arbeiterfestes dazu, gehörig die
Pauke zu schlagen, was Manchen zum Denken, mich zur
Selbsterkenntniss brachte.“ (Johann Most, Memoiren. Erlebtes, Erforschtes und
Erdachtes, Bd 1,
S. 51f.)
Die Publizierung von Liedern
und Gedichten innerhalb der Arbeiterbewegung
knüpfte an die Traditionen der Flugblattdrucke
an. Darüber hinaus existierten bereits in den
ersten Handwerker- und Arbeitervereinen
Liederbücher, aber lediglich mit
Melodieangabe, ohne Noten. Die erste, über
Flugblattgröße hinausgehende Sammlung
von Chorliedern mit Noten gab 1876/77 zur
Gründung des Allgemeinen
Arbeiter Sängerbundes der Buchhändler und Verleger
Emil Sauerteig heraus.
*
Im August 1869 erfolgte
in Eisenach die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Gründungsmitglieder waren
u.a. Wilhelm Liebknecht und August Bebel. Im Mai 1875
vereinigten sich der Allgemeine
Deutsche Arbeiterverein
und die Sozialdemokratische
Arbeiterpartei in Gotha
zur Sozialistischen
Arbeiterpartei Deutschlands.
Mosts Liederbuch war nicht nur
eines der Ersten und Bedeutendsten, sondern auch
gleichzeitig das Parteiliederbuch der Eisenacher.
Die Konkurrenzsituation beider Richtungen ging
soweit, dass auch die Lassalleaner ihr
Liederbuch hatten. Es waren die von Otto Kapell
herausgegebenen Gesammelten Gedichte für das deutsche Volk.
*
Das bekannteste Liederbuch der
1890er Jahre war das Sozialdemokratische
Liederbuch von Max Kegel. Der Deutsche
Arbeiter Sängerbund hatte seit seiner
Gründung im Jahre 1908 eine eigene
Sängerzeitung in einer Auflage von 65.000. Im
Umfeld der Arbeiter-Sängerbewegung, die kurz
vor dem 1. WK auf ihren Höhepunkt angelangt
war, erschien 1910 das Arbeiter-Liederbuch
für Massengesang,
von dem insgesamt 300.000 Exemplare verkauft worden
waren.
3. Der Krieg 1870/71 und
seine Folge für die Lieder der
Befreiungskriege
Bis 1870 bestimmten Lieder aus
der 1848er Revolution und aus der Zeit der
Befreiungskriege (Befreiung aus der napoleonischen
Herrschaft), nach 1863 dann auch die ersten
„sozialdemokratischen“ Lieder das
Repertoire der Arbeiterlieder. Das
änderte sich 1870, als die Sozialdemokraten
sich ganz entschieden gegen erzwungene Kapitulation
Frankreichs und vor allem gegen die Reparationen
und die Abtretung Elsaß-Lothringens wendeten.
Die Lieder aus den Freiheitskriegen verschwanden
aus den Liederbüchern und stattdessen wurden
verstärkt neue Lieder gesungen und sehr betont
solche, die die Pariser Kommune besangen.
In dieser Zeit bildeten sich
auch ganz bestimmte Formen für Veranstaltungen
und Feiern heraus:
Totenfeiern zu Ehren von Lassalle (11. Juli), Märzfeiern zu Ehren der „Kämpfer“
aus der 48er Revolution und auch zu Ehren der
„Communards“, den Toten der Pariser
Kommune von 1871. Es gab Stiftungsfeiern, ähnlich den Stiftungsfesten in
anderen Vereinen. Auf geselligen
Veranstaltungen wurden
die Arbeiterlieder gesungen, auf privaten Feiern,
ebenfalls auf Geburtstagen
von prominenten Personen und natürlich auch auf Beerdigungen, die oft zu politischen Demonstrationen
wurden, wenn Tausende von Menschen sich an diesen
Feiern beteiligten. Im Laufe der Jahre wurden
Lieder auch zu Demonstrationen genutzt. Ab 1869
wurde es üblich, die Versammlungen mit einem Lied zu beenden, vornehmlich mit der „Arbeitermarseillaise“,
In einem Zeitungsbericht von 1873 wird über
die Verhaftung des bekannten Sozialdemokraten Karl
Frohme (Wahlkreis Stormarn/Altona) in
Frankfurt/Main berichtet:
„… Nach 6 Uhr
erschien dann Frohme (nach seiner Vernehmung),
empfangen von neuem, tausendstimmigem Zuruf der
Menschenmenge … Hunderte von Arbeiterfrauen
und Mädchen warfen dem Verhafteten
Blumenkränze und Sträuße in den
Wagen. Dann setze sich der Zug in Bewegung mit dem
Gesang der Arbeitermarseillaise … die
Türen des Gefängnisses schlossen sich
hinter ihm. Noch eine Zeit lang verharrte die
Volksmenge und der Gesang der Arbeitermarseillaise
ertönte …“
(zitiert nach: Bettina Hitzer,
Schlüssel zweier Welten)
Ebenso, wie es Veranstaltungen
für etwas gab, so gab es natürlich
auch Veranstaltungen oder Demonstrationen gegen
etwas oder jemanden, z. B. die Sedanfeier (siehe: „Eine
gestörte Sedanfeier“
1872)
Diese Form der Parodierung
hatte aber auch Vorteile. Immer wieder waren Texte
verboten, wurden Dichter ebenso wie Sänger
oder Redakteure der sozialdemokratischen Presse
verfolgt und verhaftet. Bei erkennbarer Gefahr
konnte man, z.B. während einer Demonstration,
schnell auf den unverfänglichen original Text
zurückgreifen. Diese Methode führte aber
auch dazu, daß ein Bezug von Melodie und Text
in der Regel nicht entstehen konnte. Worin sicher
eine der Ursachen für das, auch in
späterer Zeit, kritiklose Absingen von Kampfliedern zu finden ist.
Erst zum Beginn dieses
Jahrhunderts nahmen die Bearbeitungen für
Chöre zu. Stellvertretend steht fast
ausschließlich Gustav
Adolph Uthmann.
5. Sozialistengesetze
(1878-1890)
Nach der Reichsgründung
(1871) verlief die Entwicklung der
Arbeitersängerbewegung parallel zum Aufschwung
der Arbeiter Organisationen und es kam zu
Gründungen vieler regionaler Bünde. 1873
schlossen sich 26 AGV.e zu dem Allgemeinen Sängerbund der
vereinigten Liedertafeln von Hamburg-Altona und
Umgegend (ASvLHA)
zusammen. In Gückstadt entstand z.B. 1875 der AGV
Eintracht. Im April
1877 kam es mit der
Gründung des Allgemeinen
Arbeitersängerbundes (AASB) durch Emil
Sauerteig in
Gotha, zu einem ersten reichsweiten
Zusammenschluß.
Den Aufschwung der Partei und
der Vereine in ihrem Umfeld versuchte 1878
Reichskanzler Bismarck mit den als
Sozialistengesetzen bekannten
Repressionsmaßnahmen zu stoppen und
zurückzudrängen.Das hatte natürlich
Auswirkungen auf die Produktion von
Liederbüchern, so wurden die Liederbücher
in der Schweiz und London gedruckt. (siehe hier). Sie kamen
vermutlich ebenfalls mit der sogenanten
„Roten Feldpost“
nach Deutschland.
Der Allgemeine Sängerbund der vereinigten
Liedertafeln von Hamburg-Altona und Umgegend hatte seinen Sitz in Altona, das
damals zu Schleswig-Holstein gehörte. Er fiel
somit unter die Zuständigkeit der
Altonaer sowie der Schleswiger Polizeibehörde.
Am 14.11.1878 verbot die kgl. Regierung Schleswig
den Sängerbund und somit die 22 in ihrem
Zuständigkeitsbereich ansässigen Vereine.
In der Folgezeit ging die Polizei mit den
unterschiedlichsten Maßnamen gegen die
Arbeiter-Sänger vor. Besonders negativ tat
sich dabei der Altonaer Polizeipräsident Engel
hervor (siehe die Engelhymne).