Musikalische Tradition der
Arbeiterbewegung (3)
6. Die 1890er Jahre
Im letzten Jahrzehnt des 19.
Jhs entwickelten sich Arbeiterturnvereine und Arbeitersport-Organisationen. 1890 wurde in Berlin der
Arbeiterturnverein „Fichte“
gegründet und seit 1899 wurde in
regelmäßigen Neuauflagen das „Fichte-Liederbuch“ herausgegeben. Der „Arbeiter-Turnerbund“ mit Sitz in Leipzig 1893
gegründet gab das Liederbuch „Der freie
Turner“ heraus.
Die Arbeiterradfahrer gehörten laut Lammel „zu den
politisch aktivsten Arbeitersportlern“, und
seien als „rote Husaren des
Klassenkampfes“ bekannt gewesen. 1896 wurde
der Arbeiter-Radfahrerbund „Solidarität“ gegründet. Eine erste
Liedersammlung erschien 1897.
Während des Bestehens der
Sozialistengesetze setzten die AGVe ihre
Tätigkeit analog zu der anderer
Arbeiterorganisationen in der Illegalität
fort. Sie gaben sich andere, unverfänglichere
Namen oder die Mitglieder sangen in anderen
Chören mit. Kurz nach dem Fall der Gesetze
wurde am 14.12.1890 die Gründung des Arbeiter-Sängerbundes von
Hamburg, Altona und Umgegend beschlossen. Und im Dezember 1892 folgte
in Berlin die Gründung der Liedergemeinschaft der
Arbeiter-Sängervereinigung Deutschlands. Im Kreis Steinburg sind um 1890
die Gründungen dreier AGVe bekannt. In
Lägerdorf waren es die Betriebsvereine der
Firmen Alsen und Breitenburg und der AGV Vorwärts. Es folgte 1904 in Horst der Chor Frisch Auf und ungefähr in die gleiche Zeit
fällt die Gründung des AGV Vorwärts in Itzehoe.
Am 17. März 1891 beging
der „Arbeiter-Sängerbund von Hamburg,
Altona und Umgegend“ sein erstes Bundes-Fest, dem
jährlich mindestens eines folgte (Beispiel: 1896, 1898)
7. Personenkult
Lieder auf herausragende
Personen haben, wie im allgemeinen Volksgesang oder
in den Liedern der 48er-Revolution (z.B. auf
Friedrich Hecker) auch in denen der
Arbeiterbewegung Tradition (Hier wären
beispielhaft August Bebel, Rosa Luxemburg und Karl
Liebknecht zu nennen). Dabei überschreiten sie
häufig die Funktion des Beispielgebenden oder
Symbolischen und gehen in einen Kult um die
besungene Person über. Hierin finden wir auch
einen Grund dafür, dass die „Arbeiter-Marseillaise“
des Lassalleaners Audorf erst
spät zur Hymne der Arbeiterbewegung wurde. Es
erlebte seine Uraufführung bereits auf der
großen Trauerfeier zum Tode Lassalles im
September 1864 in Hamburg. Da die Beliebtheit des
Liedes aber bereits in den 1870 Jahren groß
war, liefert es uns einen Beleg für und wider
des Personenkults um Lassalle ebenso wie der
unterschiedlichen politischen Richtungen oder
Stimmungen.
In dem bereits angesprochenen
Liederbuch von Johann Most steht beispielsweise
nicht der Audorfsche Kehrreim „Der Bahn, der
kühnen, folgen wir, die uns geführt
Lassalle!“, sondern der Refrain aus
Freiligraths Reveille „Die neue Rebellion,
... Marsch, wär`s zum Tod, Denn uns`re Fahn
ist roth!“ (3. Aufl. v. 1873), oder in der 5.
Aufl. (Hrsg. v. Gustav Geilhof) nach Hermann
Greulichs Arbeiter-Marseillaise „Steh fest! /
Steh fest! und wanke nicht, die Sklavenkette
bricht!“
Der Kult um Lassalle hatte
System. Nach 1864 wurden jedes Jahr an seinem
Todestag, dem 31. August, Gedenkfeiern abgehalten.
Ungefähr 1870 wurde die
„Arbeitermarseillaise“ zusammen mit dem
„Bundeslied“, dem
„Volksgesang“ und drei anderen Liedern
als kleines Liederbuch mit dem Titel: „Lassalleaner-Lieder“ herausgegeben. Es ist das vermutlich
älteste, nachweisbare Parteiliederbuch (Vgl.
Nespital, S. 37). Sonderbarerweise war bereits in
diesem Liederbuch zeitweilig der Kehrreim von
Greulichs „Arbeiter Marseillaise“
übernommen. (Weiteres siehe „Arbeiter-Marseillaise“)
Erst in den 1890er Jahren
begannen Arbeiterchöre in größerem
Ausmaß mehrstimmige Chorsätze zu singen.
Das deutet der Chor bei der jetzt folgenden
Arbeiter-Marseillaise Audorf’s mit dem
zweistimmigen Refrain von Carl Weiser an.
8. L i e d a n a l y s e
8.1. Die Funktion
Das Absingen der Lieder kann
situations- bzw. vortragsbedingt z.B.
solidarisierend oder entlarvend wirken. Die
Funktion der Lieder ist einerseits durch die
inhaltlich formulierte Aussage, andererseits durch
eine situationsbedingte Nutzung erkennbar. Sie
lässt sich untergliedern in:
Parteilieder
Demonstrationslieder
Streiklieder
Lieder für Feste und
Feier (z.B. Hymnen oder Vortragslieder)
Das Verhältnis
politischer Lieder und Unterhaltungsmusik bei
Festen und Feiern wird später noch einmal
thematisiert.
8.2. Die Melodien
Die Texte wurden in der Regel
auf bekannte Melodien geschrieben. Das waren
vielfach Volks-, Kirchen- oder Soldatenlieder doch
auch populäre Melodien z.B. die aus den
Operetten hervorgegangenen Couplets dienten als
Vorlage. Ursache dafür war der Mangel an
notenkundigen Arbeitern sowie fähigen
Komponisten.
8.3. Die Texte
Die Lieder aus der Zeit der Handwerker sowie
der frühen Arbeiterbewegung waren in ihrer
politischen Zielsetzung noch ziemlich verschwommen
und es durchzieht sie eine, aufgrund der sozialen
Verhältnisse, merkwürdige
Genügsamkeit. Die gesellschaftlichen
Verhältnisse wurden häufig als
„gottgewollte Ordnung“ dargestellt. Die
Texte bleiben meistens im Beklagen, teilweise
Wünschen stecken. Die Ideale des Meschenrechts
aus der Aufklärungsideologie des 18.
Jahrhunderts, Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit finden sich in den
Liedern wieder. Sie haben in der Arbeiterbewegung
Bestand bis in die heutige Zeit. Kämpferischer
wird es erst mit der Organisierung der Arbeiter wie
wir an Herweghs Bundeslied Bet’ und
arbeit’ hören konnten.
8.3.1. Ziele
In der Darstellung des bereits
erwähnten Lied-Aufbaus wird die Vergangenheit
sowie die Gegenwart meistens real, teilweise ins
Negative gesteigert, geschildert. Zu dieser
Steigerung gehören Formulierungen wie:
Den wilden Nothschrei aller
Sklaven
die Welt der Tyrannen usw.
(C. Weiser: Soz.demokr.
Bundeslied)
Das gewünschte Ziel
dagegen wird mystifiziert und nebulös
verschleiert, konkrete Aussagen sind selten.
Begriffe wie Licht oder Sonne als Gegensatz zur
Dunkelheit kennzeichnen viele der Lieder.
Anm. 1: Johann Most, Memoiren. Erlebtes, Erforschtes und
Erdachtes, Bd 1,
S. 51f.
Die Audorfssche Arbeiter-Marseillaise beinhaltet bereits die meisten
der angestrebte Ziele der Arbeiterorganisationen.
Die Befreiung des Volkes vom Elend. Gleiches Recht
für alle, speziell das freie Wahlrecht.
Darüber hinaus finden wir den Wunsch nach
nationaler wie internationaler Solidarität
z.B. in den häufig formulierten Begriffen wie
Bruderbund, Bruderband oder Völkerglück.
Von Beginn an ist die
Erreichung kürzerer Arbeitszeit als wichtiges
Ziel in den Liedern enthalten. Ab 1890 kommt die
Forderung nach der Anerkennung des 1. Mai als
arbeitsfreien Kampftag der Arbeiter hinzu.
Bildung
Die Forderung nach
Geistesbildung findet sich in vielen Liedern
wieder. Wissen ist
Macht. Dieser Spruch
ist seit Entstehung der Arbeiterbildungsvereine zum
Symbol geworden. In Liederbüchern und auf
Spruchbändern steht häufig das Motto:
Nicht daß wir singen,
sondern war wir singen,
macht uns so frei, so froh