Vorwort (S. 7-11)
Die Volkslieder,
von denen vorliegender Band eine kleine
Auswahl vereinigt, werden vom Volke der
Ostjuden wie in ihrer eigentlichen
Heimat (Polen, Galizien, Bukowina,
Westrußland, Ungarn und
Rumänien), so auch in den
Ländern der Zerstreuung (in
Rußland bis tief nach Sibirien,
England und Nordamerika) gesungen.
Obwohl die meisten der Lieder sehr alt
sind, wurde mit dem Aufzeichnen und
Sammeln erst vor
verhältnismäßig kurzer
Zeit begonnen.
Die erste
wissenschaftliche Veröffentlichung
über das Thema ist die von L.
Wiener: „Popular Poetry of the
Russian Jews“ in „Americana
Germanica“ 1898.
Die erste
umfassende Sammlung ist die von
Ginsburg und Marek (St. Peterburg
1901). Sie enthält (in
hebräischen Lettern und
lateinischer Transkiption) den Text von
376 Volksliedern und eine
ausgezeichnete russische Einleitung.
Diese Sammlung steht auch heute noch
unerreicht da.
An zweiter Stelle
ist die zweibändige Sammlung:
„Yddisch Folksongs“ von J.
L. Cahan (New York 1912) zu nennen. Sie
enthält etwa 300 Lieder, zum
größten Teil mit Melodien
und lateinischer Transkription, und ist
eine wertvolle Ergänzung zu dem
erstgenannten Werk. Eine groß
angelegte Publikation ist vom bekannten
jüdischen Folkloristen Nejach
Priluzki in Warschau, der über
2000 Volkslieder gesammelt hat,
unternommen; erschienen sind bisher
zwei Bände mit rund 200 Liedern
und sehr wertvollen Anmerkungen in
jüdischer Sprache (Warschau 1910
und 1912). Ein hübsches kleines
Liederbuch (Text nur in
hebräischen Lettern) ist unter dem
Titel „Jüdische
Volkslieder“ 1917 im Verlag
„Lyra“ in Warschau
erschienen. Viele einzelne Volkslieder
wurden in den von Dr. Grunwald
herausgegebenen „Mitteilungen zur
Jüdischen Volkskunde“ (Wien)
und in der Monatsschrift „Ost und
West“ (Berlin)
veröffentlicht.
Arno Nadel brachte
in der vorzüglichen von Martin
Buber geleiteten Monatsschrift
„Der Jude“ eine Reihe der
in den oben angeführten Sammlungen
enthaltenen Volkslieder mit
schönen Übertragungen und
wertvollen Anmerkungen. Das unter dem
vielversprechenden Titel
„Jüdisch-deutsche
Volkslieder aus Galizien und
Rußland“ vom bekannten
Hebraisten Gustaf Dalman (Berlin 1891)
herausgegebene Buch enthält lauter
Kunstlieder und kein einziges
wirkliches Volkslied.
Die Sammlungen von
Ginsburg und Marek und Priluzki
berücksichtigen das Musikalische
leider gar nicht; die Sammlung von
Cahau ist zwar mit vielen
Notenbeispielen versehen, enthält
aber neben echten Volksweisen auch
viele Walzermelodien und Gassenhauer
nichtjüdischer Provenienz. Mit dem
Sammeln der Melodien befaßt sich
die Petersburger Gesellschaft für
jüdische Volksmusik, die ein
vorzügliches Liederalbum
herausgegeben hat.
Über die
Frage, ob das Idiom dieser Volkslieder
eine Sprache, eine Mundart oder ein
„Jargon“ sei, wollen wir
uns hier nicht verbreiten. Wir halten
es mit Prof. Hermann Strack, der in der
Vorrede zu seinem „Jüdischen
Wörterbuch“ (Leipzig 1916)
erklärt: „Das Jüdische,
meist für einverderbtes Deutsch
gehalten, kann auf den Namen
‚Sprache’ mit mindestens
demselben Rechte Anspruch erheben wie
das Englische.“ Zur Orientierung
über die jüdische Sprache
dienen neben dem Wörterbuch von
Strack folgende Werke: J. Gerson,
„Die jüdische-deutsche
Sprache“ (Frankfurt a. M. 1902),
Heirnrich Loewe, „Die Sprachen
der Juden“ (Berlin 1911) und
Matthias Mieses, „Die
Entstehungsursache der jüdischen
Dialekte“ (Wien 1915). Speziell
über das jüdische Volkslied
orientiert die kleine Abhandlung von S.
Kisselhoff (Berlin o. J.).
Vorliegende
Auswahl beruht auf den eingangs
angeführten
Veröffentlichungen von Wiener,
Ginsburg und Marek, Cahan und Priluzki.
In den am Schlusse des Buches folgenden
Anmerkungen haben wir für jedes
Lied die Quelle angegeben. Wir waren
bestrebt, von jeder Art von Liedern
(religiösen, Wiegen-, Kinder-,
Liebesliedern, Balladen usw.) einige
charakteristische Beispiele zu geben.
Wir haben auch einige Nummern
(vorwiegend Balladen), die unverkennbar
zum deutschen Volksliederschatz
gehören, aufgenommen, um zu
zeigen, wie solche Lieder bei den
Ostjuden weiterleben. Bei der
Übertragung hielten wir uns,
soweit es Reim und Versmaß
erlaubten, möglichst nahe an die
Originale. Einige Schwierigkeiten
bereitete die Transkirpiton des
jüdsichen Textes.
Das Jüdische,
von dem es drei Hauptdialekte gibt
(nämlich den litauischen, den
polnischen und den südrussischen),
wird bekanntlich mit hebräischen
Lettern geschrieben. Derselbe Text
sieht in den drei Dialekten gedruckt
vollkommen gleich aus, wird aber
verschieden gelesen; der Unterschied
erstreckt sich lediglich auf die
Ansprache der Vokale. Über die
hauptsächlichen Unterschiede
zwischen den litauischen und der
polnischen Aussprache (von der
südrussischen, die sich der der
polnischen nähert, wollen wir
absehen) orientiert folgende
Zusammenstellung:
Die Vokale:
ã (Land), ? (Bett), i (Wind) und
? (Gott) sind in allen Dialekten
unverändert. Die verschiedene
Aussprache des Vokals „u“
ist ganz besonders auffallend; sie
bedingt es, daß viele Worte, die
sich in der polnischen Aussprache
reimen (z. B. Mitter und bitter, lieb
und Grib), in der litauischen keinen
Reim mehr geben (Mutter und bitter,
lieb und Grub). Wir haben uns bei der
Transkription an die litauische
Aussprache gehalten, die zwar numerisch
weniger verbreitet ist als die
polnische, aber von vielen für die
eigentliche literarische Sprache
gehalten wird. Ausschlaggebend war
für uns nur der Umstand, daß
diese Aussprache dem deutschen Leser
etwas verständlicher ist als die
polnische. Wo in der litauischen
Aussprache des Reimes wegen an Stelle
des sonst üblichen „u“
ein „i“ tritt, haben wir es
mit einem „y“
transkribiert. Ein Lied, nämlich
Nr. 53, haben wir in der Warschauer
Aussprache wiedergegeben.
Obwohl es in der
hebräischen Schrift keiner F und
V, keine großen und kleinen
Buchstaben und keine Doppelkonsonannten
gibt, haben wir uns bei der
Transkirpiton nach Möglichkeit an
die deutsche Ortographie, wo sie der
jüdischen Aussprache nicht
zuwiderläuft, gehalten, um den
Text dem deutschen Leser
verständlicher zu machen. Wer dne
jüdischen Text einigermaßen
richtig aussprechen will, möchte
sich merken, daß es im
Jüdischen keine Umlaute gibt (also:
Glick, heren, schejn statt Glück,
hören, schön), daß das
deutsche „ei“ immer als
„ej“ zu lesen ist (mit
Ausnahme der Fälle, wo es mit
„ai“ transkribiert ist),
daß die Vokale fast immer kurz
und die Konsonanten wie verdoppelt
auszusprechen sind und daß das
„ch“ stark guttural, wie im
Schweizerdeutsch, klingt. Der Laut
„ž“ (in ponischen Worten)
ist wie „j“ im
französischen "jour"
auszusprechen.
Alles Nähere
über die dem Deutschen
unverständlichen Worte, Wendungen
usw. findet der Leser in den
ausführlichen Anmerkungen am
Schlusse des Bandes
Alexander
Eliasberg