I. Aufschwung des
nationalen Kulturlebens der Juden.
Eine mächtige
Woge nationalen Empfindens steigt in
den letzten Jahren im Leben des
Judentums, wie sie seit langem nicht
beobachtet worden und bringt eine Reihe
längst vergessener oder doch
unbeachtet gelassener Fragen
jüdischer nationaler Kultur
wiederum ans Tageslicht. Nationale
Werte, die bisher keinerlei Beachtung
fanden, an denen der gebildete Jude und
der jüdische Gelehrte mit gleicher
Geringschätzung vorbeigingen, sind
nunmehr zum Gegenstand allseitigen
Interesses und eingehenden Studiums
geworden. Zu den am allerwenigsten
erforschten und beleuchteten Problemen
nationaljüdischer Kultur
gehört auch die Frage der
jüdischen Musik.
II. Musik als
Nationalkunst.
Die Frage, ob es
jemals jüdische Musik als
nationale Volkskunst gegeben hat, ist
bis zum heutigen Tage unentschieden.
Die Musiktheoretiker, soweit sie das
Vorhandensein nationaler Musik
überhaupt anerkennen und
„deutsche“,
„russische“,
„französische“,
„orientalische“ Musik
unterscheiden, behaupten
übereinstimmend, eine
„jüdische“ Musik gebe
es nicht in der Welt.
Nun bietet aber
allein das Volkslied die Grundlage zur
Entwicklung des Kunstliedes, zur
schaffensfreudigen persönlichen
Betätigung des nationalen
Komponisten. Diese Grundlage ist es,
die nach dem übereinstimmenden
Urteil der Musiktheoretiker dem
jüdischen Volke fehlen soll.
Unsere Aufgabe ist
es daher, den Beweis zu führen und
zu liefern, dass das jüdische
Volksgenie auf dem Gebiete der Musik
unerschöpfliche Reichtümer
geschaffen hat, die aber
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leider bisher so
gut wie unerforscht geblieben sind.
Kein Zweifel, dass auch das
jüdische Volkslied, gleich dem
deutschen, als Erzeugnis
jahrhundertealter historischer
Volkserlebnisse, vom Geiste seines
Meisters getragen und beseelt ist. Wir
wollen daher die Schätze
musikalischer Schaffenskraft zu heben
suchen, die in den Tiefen des
Volkswesens schlummern.
III. Herkunft der
Musik und älteste Musik bei den
Juden
Die sagenhafte
Ueberlieferung der alten Völker
führt den Ursprung der Musik auf
die Schöpfung göttlicher
Wesen zurück. Göttlicher
Herkunft ist die Musik, sie ist eine
Gabe der Götter, welche in Sang
und Spiel Lehrmeister der Menschen
gewesen. Der Ursprung dieser Sagen ist
in dem engen Verhältnis zwischen
Religion und Musik, das überall
und immer bestanden hat, leicht
gefunden. Nicht nur in der Gegenwart,
auch in der grauesten Vergangenheit
werden religiöse Bräuche und
Kulturzeremonien von Gesang oder von
den Klängen der Musikinstrumente
begleitet. Keine andere Kunstart
erzeugt religiöse Stimmung und
Empfindung in so hohem Grade, wie die
Musik. Diese bringt den Menschen bis
zum Zustand der Begeisterung, der
Ekstase.
Auch bei den Juden
wurden alle Kulturgebräuche und
Tempelfeierlichkeiten von Liedergesang
begleitet. Gott Zebaoth auf seinem
Throne ist von einer Engelschar
umringt. die Ihm Lobpreis singen. Unter
Trompetengeschmetter verkündet
Moses dem Volke die Gebote Gottes.
Diese engen Bande,
die Musik mit Religion verknüpfen,
werden wohl auch den Grund für die
mythische Erklärung des
göttlichen Ursprungs der Musik
abgegeben haben.
Die Wissenschaft
weist verschiedene
Erklärungsversuche für die
Entstehung der Musik auf. So sieht
Lukretius in der ursprünglichen
Musik des Menschen ein Nachahmen der
Natur. Die Vögel mit ihren
biegsamen Stimmen lehrten den Menschen
singen; der Zephyrhauch im hohlen
Uferrohre lehrte ihn auch der Schalmei
spielen. Andere wiederum, so Plato,
Taine und Herbert Spencer meinen, der
Gesang sei nichts anderes, als eine
Weiterentwicklung des Schreies,
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das Lied eine
allmähliche Entwicklung der
lautlichen Ausdrücke von Freud und
Leid.
Professor Naumann
weiht der Musik der Kinder Israels ein
besonderes Kapitel seiner
Musikgeschichte. Er behauptet hier,
dass die Juden, die den Monotheismus,
den Glauben an den alleinigen Gott
geschaffen haben, ebenso wie die
Griechen einen ausserordentlich grossen
Einsluss auf die Entwicklung der Musik
ausgeübt haben. Auf die
älteste Musik der Juden, wie auch
der anderen ursprünglichen
Völker, lässt sich aus den
Denkmälern der ältesten Zeit
ein Rückschluss ziehen. Als
Denkmäler dieser Art können
Musikinstrumente, die bei Ausgrabungen
gefunden wurden, dienen; Abbildungen
dieser Instrumente auf Ruinen
ältesten Ursprungs oder auf
Münzen; endlich Beschreibungen der
verschiedensten Erscheinungen
musikalischer Volksbetätigung in
den ältesten heiligen Schriften.
Auf den
Ueberresten des Triumphbogens, der von
den Römern Titus, dem Besieger des
jüdischen Reiches, zu Ehren
errichtet wurde, befinden sich neben
dem Leuchter und den heiligen
Geräten, die vom Sieger dem Tempel
entnommen wurden, auch Abbildungen von
Trompeten, anscheinend aus Messing, die
vom Triumphator dem besiegten Volke
geraubt wurden.
Höchstwahrscheinlich sind es
Signalhörner, die von den Juden im
Kriege benutzt wurden. Einige Forscher
glauben, dass die Abbildungen auf dem
Titusbogen den „Schofar“
darstellen sollen. Doch ist diese
Annahme falsch; die abgebildeten
Trompeten sind nämlich von ganz
gerader Form und haben keinerlei
Aehnlichkeit mit dem gebogenen
„Schofar“, das ein
Widderhorn ist.
Der
„Schofar“ ist eines der
ältesten Musikinstrumente des
jüdischen Volkes, was durch seine
Verbreitung bei Juden der
verschiedensten Länder bewiesen
wird, sowie durch seine Erwähnung
in alten Büchern. Auch zeugt von
seinem grauen Alter, dass das
Widderhorn verwendet worden ist: es
muss aus der Zeit stammen, als die
Juden noch das Nomadenleben eines
Hirtenvolkes führten.
Nach der
Bibelüberlieferung sind die Mauern
von Jericho unter den Klängen des
„Schofar“ gefallen. Die
herzzerreissenden, langsam gedehnten
Laute des „Schofar“
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erschallen
alljährlich in der Synagoge an den
„ionim norium“, den Tagen
des Schreckens und der Gebete, zu
Neujahr „rosch haschono“
und an dem Versöhnungstage
„iom kippur“.
Auf den
jüdischen Münzen aus dem
Zeitalter Alexanders des Grossen, also
mehr denn drei Jahrhunderte vor
Christo, finden sich Abbildungen von
Musikinstrumenten: auf der einen Seite
die Leier, auf der anderen die Harfe.
Diese Münzen beweisen allerdings
am allerwenigstens die jüdische
Herkunft der genannten Instrumente;
wohl aber ihre Verbreitung bei den
Juden. Wir werden es unterlassen,
zahlreiche Zitate aus der Bibel
anzuführen, die von einer
bedeutenden Entwicklung der Musik, der
vokalen, wie der instrumentalen bei den
Juden in dem ältesten
Zeitabschnitt zeugen. Man erinnere sich
nur an Tubal Kain, dem die Bibel die
Erfindung der Saiten- und
Blasinstrumente „Kinor“ und
„Ugab“ zuschreibt; an
Miriam mit der Pauke; an den
mächtigen, feierlichen Hymnus
„Os ioschir“ nach dem
Uebergange der Juden durch das
Schilfmeer; an Moses, den Urheber der
Tempelmusik, die er den Aegyptern
entnahm; an Josua und die Eroberung
Jerichos; an Barak und Demorah; die
Tochter Jephtah’s; David, den
Psalmensänger, der durch sein
Lautenspiel die Sorgen Sauls
zerstreute; an Salomo und den
Liedersang im Tempel; an den Propheten
Elisa u. a. m.