Trotz alledem
1. Ob Armuth euer Loos auch sei,
Hebt doch die Stirn, trotz alledem!
Geht kühn dem feigen Knecht vorbei,
Wagt’s arm zu sein trotz alledem!
Trotz alledem und alledem,
Trotz niederm Pack und alledem,
Der Rang ist das Gepräge nur,
Der Mann das Gold trotz alledem!
2.
Und sitzt ihr auch beim kargen Mahl
In Zwilich und Lein’ und alledem!
Gönnt Schurken Sammt und Goldpokal,
Ein Mann ist Mann trotz alledem!
Trotz alledem und alledem,
Trotz Prunk und Pracht und alledem!
Der brave Mann, dürftig auch
Ist König doch trotz alledem.
3.
Heißt „gnäd’ger Herr“
das Bürschchen dort!
Man sieht’s am Stolz und alledem,
Doch lenkt auch Hunderte sein Wort:
‘S ist nur ein Tropf trotz alledem!
Trotz alledem und alledem,
Trotz Band und Stern und alledem!
Der Mann von unabhäng’gem Sinn
Sieht zu und lacht zu alledem!
4.
Ein Fürst macht Ritter, wenn er spricht,
Mit Sporn und Schild und alledem!
Den braven Mann kreirt er nicht,
Der steht zu hoch trotz alledem!
Trotz alledem und alledem!
Trotz Würdenschnack und alledem -
Des innern Werthes stolz Gefühl
Läuft doch den Rang ab alledem!
5.
Drum Jeder fleh’, daß es
gescheh’,
Wie es geschieht trotz alledem!
Daß Werth und Kern, so nah wie fern,
Den Sieg erringt trotz alledem,
Trotz alledem und alledem!
Es kommt dazu trotz alledem,
Daß rings der Mensch die Bruderhand
Dem Menschen reicht, trotz alledem!
St. Goar, Dezember 1843.
Trotz alledem
(Variiert)
1. Das war’ne heiße Märzenzeit,
trotz Regen, Schnee und alledem!
Nun aber, da es Blüten schneit,
nun ist es kalt trotz alledem!
Trotz alledem und alledem
trotz Wien, Berlin und alledem
ein schnöder, scharfer Winterwind
durchfröstelt uns trotz alledem!
2. Das ist der Wind der Reaktion
mit Mehltau, Reif und alledem!
Das ist die Bourgeoisie am Thron
der annoch steht, trotz alledem!
Trotz alledem und alledem -
trotz Blutschuld, Trug und alledem -
er steht noch und er hudelt uns
wie früher fast, trotz alledem!
3. Die Waffen, die der Sieg uns gab,
der Sieg des Rechts trotz alledem,
die nimmt man sacht uns wieder ab,
samt Kraut und Lot und alledem,
trotz alledem und alledem,
trotz Parlament und alledem -
wir werden unsre Büchsen los,
Soldatenwild trotz alledem!
4. Doch sind wir frisch und wohlgemut
und zagen nicht trotz alledem!
In tiefer Brust des Zornes Glut,
die hält uns warm trotz alledem!
Trotz alledem und alledem,
es gilt uns gleich trotz alledem!
Wir schütteln uns: ein garst’ger Wind,
doch weiter nichts, trotz alledem!
5. Denn ob der Reichstag sich blamiert
professorhaft, trotz alledem!
Und ob der Teufel reagiert
mit Huf und Horn und alledem -
trotz alledem und alledem,
trotz Dummheit, List und alledem,
wir wissen doch: Die Menschlichkeit
behält den Sieg trotz alledem!
6. So füllt denn nur der Mörser Schlund
mit Eisen, Blei und alledem:
Wir halten uns auf unserm Grund,
wir wanken nicht trotz alledem!
Trotz alledem und alledem!
Und macht ihr’s gar, trotz alledem,
wie zu Neapel jener Schuft:1
Das hilft erst recht, trotz alledem!
7. Nur, was zerfällt, vertrete ihr!
Seid Kasten nur, trotz alledem!
Wir sind das Volk, die Menschheit wir,
sind ewig drum trotz alledem!
Trotz alledem und alledem:
So kommt denn an, trotz alledem!
Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht -
unser die Welt, trotz alledem!
Düsseldorf, Anfang Juni 1848
1
Bezieht sich auf die blutige Niederschlagung des revolutionären
Aufstandes Mitte Mai 1848 in Neapel durch Truppen des Königs
Ferdinand II. von Sizilien und Neapel.
Geschichte / Kommentar:
A Man’s a Man for A’ That (oder: Is There for Honest Poverty) wurde 1795 von
dem schottischen Poeten Robert Burns (-) geschrieben. Es drückt
den Wunsch nach Gleichheit und Gerechtigkeit aus und wurde für die
sozialdemokratische Bewegung jener Zeit zu einer Hymne. Der Text von
Burns wurde von Thomas Paines Schrift „The Rights of Man“
(1791/92) maßgeblich beeinflusst. Während in Schottland noch
die Bestrebungen nach Unabhängigkeit dazu kamen, war es mit der
Übersetzung ins Deutsche von Ferdinand Freiligrath der Wunsch nach
staatlicher Einheit.
Freiligrath schrieb sein Lied im Dezember 1843,
konnte den Text allerdings aufgrund von Zensurmaßnahmen erst in
seinem „Glaubensbekenntniß“ im folgenden Jahr
veröffentlichen. In Deutschland wurde das Lied auf die Melodie von
Heinrich Jädes oder C. G. Reisiger (op. 14, 1924, Text August
Kopisch: Als Noah aus dem Kasten war) genommen.
Im Zuge der Niederschlagung der
Märzrevolution von 1848 griff Freiligrath das Lied Anfang Juni des
Jahres wieder auf und schrieb eine „variierte“ Fassung mit
gleichem Titel „Trotz alledem“. So wurde es in der von Karl
Marx herausgegebenen „Neuen Rheinischen Zeitung“
(Köln) abgedruckt.
Freiligraths Titel nutzte Karl Liebknecht zur
Rechtfertigung seiner Politik am 15. Januar 1919 in „Die Rote
Fahne“. Am 11. Mai 1929 nutzte dies wiederum die Hamburger
Volkszeitung als Reaktion auf das Verbot des Roten
Frontkämpferbundes und damit eine mehr als fragwürdige
Gleichsetzung der jeweiligen Situation. Neben den üblichen
Schuldzuweisungen (an die Sozialdemokratie in Gestalt von Grzesinski
und Severing) sprach die KPD der Regierung nicht nur das moralische,
sondern auch das juristische Recht ab, den RFB zu verbieten (siehe dazu:
Werner Hinze, Schalmeienklänge im Fackelschein, S. 208ff.) Doch
auch im Theater wurde das Zitat agitatorisch z. B. von Erwin Piscator
für eine politische Revue genutzt.
Freiligraths zweite Version (Das war ne
heiße Märzenzeit), die variierte, spielt im 19. Jahrhundert
keine Rolle. Sie wurde erst wieder in der Folkbewegung der 1970er Jahre
durch Hannes Wader oder auch Wolf Biermann aufgegriffen. Hier
allerdings mit der schottischen Melodie „Lady Mackintosh’s
Reel“.
Quelle:
Version 1:
Aus: Johann Most, Neuestes Proletarier-Lieder-Buch
von verschiedenen Arbeiterdichtern. Gesammelt von Joh. Most, 3.
verbesserte Aufl., Chemnitz 1873, Druck und Verlag der Genossenschafts-Buchdruckerei
Lindenstraße Nr. 45, S. 79 (5 Str., Als Noah)