Der erste Mai
1. Wir schaffen nicht! Der erste Mai
Sei unser, unser Feiertag;
Als höchsten nehmen wir ihn frei
und führen diesen ersten Schlag,
den gleichen Schlag in aller Welt,
wo unterm Joch die Arbeit keucht,
den gleichen Schlag, so weit das Geld,
das feile Geld den Geist verscheucht.
2. Wir graben nicht an diesem Tag!
Wir gruben lang im tiefen Schacht!
Wohin kein Fünkchen dringen mag
vom Feuer, das am Himmel lacht.
wir steigen an der Sonne Licht,
wo uns’re Kohle kocht den Dampf,
der eilend uns die Bahnen bricht
zur Freude, weit hinweg vom Kampf.
3. Wir bauen nicht an diesem Tag,
da jeder Keim zur Lust erwacht;
wer knechtisch baut in dumpfer Plag,
wird von der Welt mit Recht verlacht.
Wir haben lang genug gebaut
die Zwingburg gold’ner Tyrannei,
und endlich sei auch aufgeschaut!
Nun komme endlich unser Mai!
4. Wir weben nicht an diesem Tag!
Wir woben lang am Hungertuch!
Es ruh’ der Weber… Schlaag,
Es ruhe auch des Webers Fluch.
Den Webstuhl einer neuen Zeit –
Den rüsten wir und räumen auf,
und nach der Freiheit Herrlichkeit
gerichtet sei der Schiffe Lauf.
5. Wir hämmern nicht an diesem Tag!
Wir schmieden nicht am ersten Mai!
Wir stellen aber eine Frag’
an jeden, der vom Solde frei:
Wer hat das Recht zu feiern? Wer?
Wer nur darf sagen Heut sei Fest!?
Vielleicht der Drohnen kleines Heer
und macht der große fleiß’ge
Rest?
6. Als Got der Herr die Welt gemacht,
da sprach auch er: Nun will ich ruh’n;
und wir, die Schöpfer ird’scher Pracht,
wir dürfen nicht ein Gleiches thun?
Wenn üben wir ein göttlich Recht,
wie groß der Knechte Furcht auch sein;
denn wir, der neuen Zeit Geschlecht,
wir bilden unser Lood uns frei.
7. Wir setzen einen Fertag,
wenn’s auch des Goldes Macht verletzt,
wir setzen einen Ruhetag,
den keine Kirche uns gesetzt:
nur einen, einen einz’gen Tag
für uns, die wir die Arbeit thun!
Nur einen, einen einz’gen Tag
an dem wir frei uns wollen ruh’n!
8. Wir schaffen nicht am ersten Mai!
Wir schaffen ja das ganze Jahr
und werden doch nicht sorgenfrei,
und doch bleicht Elend unser Haar!
Drum soll die Arbeit einmal ruh’n
bei jedem Volk am gleichen Tag –
der Freiheit gelte unser Thun,
und Knechtschaft treffe wucht’ger Schlag.
9. Ein Losungswort, ein Feldgeschrei,
so weit erschallt der Arbeit Klag:
der erste Tat im schönen Mai
sei unser, unser Feiertag!
Wir nehmen und wir halten fest
und geben ihn für Geld nicht frei,
den armen Tag, das hohe Fest,
der neuen Aera ersten Mai!
Aus: Beilage zu „Der Sozialist“ Nr.
18, Berlin, Sonntag, der 1. Mai 1892 (2. Jahrgang)