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Sah ein Knab’ ein Röslein stehn
Andere Titel: 
A. Ältere Fassung bei Herder. 1773

Röschen auf der Haide

1. Es sah ein Knab ein Röslein stehn,
Röslein auf der Haiden,
Sah, es war so frisch und schön,
Und blieb stehn, es anzusehn,
Und stand in süßen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein roth.
Röslein auf der Haiden.

2. Der Knabe sprach: „Ich breche dich,
Röslein auf der Haiden!“
Röslein sprach: „Ich steche dich,
Daß du ewig denkst an mich,
Daß ichs nicht will leiden.“
Röslein, Röslein, röslein roth,
Röslein auf der Haiden.

3. Doch der wilde Knabe brach
Das Röslein auf der Heiden; [sic!]
Röslein wehrte sich und stach,
Aber es vergaß darnch
Beim Genuß das Leiden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Haiden.
B. Spätere Fassung in Goethes Werken.

Heidenröslein.

1. Sah ein Knab’ ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnelle es nah zu sehn,
Sah’s mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.

2. Knabe sprach: Ich breche dich
Röslein auf der Heiden!
Röslein sprach: Ich steche dich,
Daß du ewig denkst an mich,
Und ich will’s nicht leiden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.

3. Und der wilde Knabe brach
’s Röslein auf dern Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihr (ihm) doch kein Weh und Ach,
Mußt’ es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.

[unterstrichen im Original gesperrt]

Text: Johann Wolfgang von Goethe,
Melodie:
Noten:
Vorlage:
Kategorie:
Zeit:
Geschichte / Kommentar: 

An dieser Stelle zitieren wir Franz Magnus Böhme:

Das Lied in der Fassung unter A. ist zuerst gedruckt in Herders Schrift: „Von deutscher Art und Kunst“, Hamb. 1773, S. 57, dort mitgetheilt von Herder in seinem Aufsatze: „Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder aller Völker“. Dort steht es als ein „Fabelliedchen“, ohne Goethe’s Namen und noch S. 34 daselbst die Angabe, daß es aus Volksmund aufgenommen sei. Wiederum steht das Lied vom „Röschen auf der Haide“ in Herder’s Volkslieder II. B., 1779, 2. Buch Nr. 23, und wieder mit der ausdrücklichen Bemerkung „Aus mündlicher Sage“. –

Später hat Goethe dieses Lied mit einigen Aenderungen in seine Gedichte aufgenommen, gilt bis heute die Textfassung unter B. als ein Gedicht von Goethe. –

Ist das Lied nun Volkslied oder ein Produkt von Goethe? Wie kommt Goethe zur Urheberschaft? Hat er sich gegen Herder einen Scherz erlaubt, indem er das Lied an Herder, für den er 1771 im Elsaß Volkslieder sammelte, einsandte, ohne seinen Namen zu nennen? War es vielleicht ein Gedächtnißfehler auf Seiten Herder’s daß er das Lied als der mündlichen Ueberlieferung entnommen bezeichnete? Warum hat denn Goethe nach den neuen Ausgaben von Herder’s Volksliedern 1819 und 1825, da er doch noch lehrte, das Lied nicht als sein Eigenthum zurückgefordert? Warum hat ebenso wenig Herder Goethe’n auf {S. 97] sein unrechtmäßiges Eigenthum aufmerksam gemacht? Istr wohl Herder [mit Zustimmung Goethe’s eine Mystification zuzutrauen? oder ein solche von Goethe anzunehmen? –

Darüber ist schon viel geschrieben worden, ohne daß der Sachverhalt klargelegt worden wäre. Zwei eingehende Abhandlungen stehen im Archiv für Litteraturgeschichte, eine Bd. V, 84ff. von B. Suphan, der die Lesart A. für ein Volkslied betrachtet, also Herder zustimmt, und eine zweite von Dr. Herm. Dunger (Bd. X, 193ff.) der beide Lesarten dem Goethe zuschreibt. Diese wohlbegründete Ansichte theile auch ich und erkenne (mit Dunger) in alter und neuer Fassung nur Goethe’s Arbeit auf Grund eines viel älteren Volksliedes, das Verschweigen des Namens auf Goethe’s Seite kann nur eine absichtliche Täuschung gegen Herder und das Lesepublikum sein. Das Heidenröslein kann kein Volkslied sein. Wie glücklich darin auch der Ton des Volksliedes getroffen worden, so ist das Gedicht doch zu kunstvoll, zu vollendet. „Mit wenig Pinselstrichen ist das kleine Gemählde hingeworfen. Welch ein dramatisches Leben in den wenigen Zeilen, wie geschlossen die Schilderung, wie knapp und treffend der Ausdruck! Kein Wort zu viel, jede Farbe auf dem rechten Flecke aufgesetzt. – das vermag nur ein Meister des Liedes wie Goethe, die Volkspoesie kann es nicht“ (Dunger). –

Für Kenner des Volksgesanges der Vorzeit gilt schon längst das Gedicht vom Haidenröslein (wie es bei Herder und Goethe vorliegt) zwar nicht für ein Volkslied, sondern für Umdichtung und Zusammenziehung eines Volksliedes aus dem 16. Jahrh. mit dem, Anfange: Sie gleicht wohl einem Rosenstock (Abdr. bei Uhland Nr. 50 und Liederhort II, 426). Dieses ältere Lied muß Goethe gekannt haben und hat es benutzt; denn darin wird derselbe Inhalt besungen mit demselben Refrain: „Röslein auf der Heiden“; nur ist die Allegorie dort nicht durchgeführt, wie bei Goethe. Die Quelle des alten Liedes (Liederbuch Pauls v. d. Arltst 1602) war nicht selten und kann Goethe sie recht wohl auf der Straßb. Bibliothek gefunden haben, wo er 1771 histor. Studien zu seinem „Götz v. Berlichingen“ macht. –

Hat aber auch Goethe unleugbar die Farben und die ganze Stimmung seinem Vorbilde entlehnt, so bleicht doch die Komposition, die echt goethe’sch ist und an andere Jugendgeidchte des Meisters erinnert, sein Eigenthum. –

Wenen wir uns zum Inhalte der Liedes. Goethe’s Heidenröslein und da sihm zum Vorbild dienende alte Volkslied sind allegorische Gedichte. Beide behandeln unter dem Bilde eine Rösleins das Geschick eines jungen Mädchens, das einem von leidenschaftlicher Liebe entbrannten Jünglinge, trotz versuchter Gegenwehr sich ergeben muß. Denn daß von Rosenbrechen im wörtlichen Sinne nicht die Rede ist, folgt unwiderligleich auf Zeile 18, wo Goethe, das Bild der alten Ausgabe verlassend, schreibt: „Half ich doch kein Weh und Ach“, Erst später (1825) verwandelte er das Wort ihr in ihm, was sprachlich richtiger ist, aber beide Ausdrücke beziehen sich doch aufs Röslein, nicht auf den Knaben. Weniger verhüllt istd er Schluß der älteren Fassung. Auch hier wehrt sich das Röschen (= Mädchen) gegen die ungestürme Liebeswerbung des Knaben; aber als ihr Widerstand gebrochen, als sie nach allem Sträuben sich hat ergeben müssen, so vergißt sie ihr Leiden im Vollgenuß sinnlicher Lust. –

Herder scheint dies Heideröslein-Gedicht nur flüchtig angesehen und den Sinn des Liedes gar nicht verstanden zu haben, als er es 1773 drucken ließ. Er führt es mit folgenden merkwürdigen Worten ein:

„zu unsern Zeiten wird so viel von Liedern für Kinder gesprochen; wollen Sie ein älteres deutsches hören? Es enthält gar keine transcendente Weisheit und Moral, mit der die Kinder zeitig genug überhäuft werden –es ist nichts als ein kindisches Fabelliedchen: Es sah ein Knab ein Röslein stehn (folgt der Abdruck der Fassung A.)“. Zum Schluß fügt Herder hinzu: „Ist das nicht Kinderton“?

Herder hat also, trotzdem durch die Worte „es vergaß beim Genuß das Leiden“ die Deutung nahegelegt war, dennoch durch „das kindische Ritornell“ (wie er den Refrain nennt) sich bestimmen lassen, in dem Gedichte ein unverfängliches Kinderlied zu sehen. –

Bis heute spielt dieses Liebeslied nicht bloß im Concertaal (mit Schubert’s Musik) sondern auch in Schulliederheften eine große Rolle und ist unter allen Liedern Goethes das populärste geworden. Mag es unbedenklich in den Schulen fort gesungen werden, denn die Jugend hält es mit Herder für ein einfaches Naturliedchen, mit einer Geschichte, die sich zwischen einer Rose und einem Knaben begeben hat: Der Knabe hat das Röslein gebrochen, mit seinen Dornen vergebens sich gewehrt hat, es hat ihm nichts geholfen, es mußte sich brechen lassen. Und ganz recht ists, wenn die Kinder Mitleid mit


Sah ein Knab (2) >

 
 
 
 
 
 
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