Kisselhoff: DAS JUEDISCHE VOLKSLIED (4)
Erschienen in: DIE JÜDISCHE GEMEINSCHAFT. Reden und Aufsätze über zeitgenössische Fragen des jüdischen Volkes, herausgegeben von Dr. Ahron Eliasberg, Berlin. Jüdischer Verlag, 1913, 22 S.
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2. Wiegenlieder.
Am traurigsten und zugleich von tiefster Poesie durchdrungen sind die Wiegenlieder. Wo anders sollte auch die Mutter ihr kummervolles Herz ausschütten, wenn nicht an der Wiege ihres Kindes? Das Wiegenlied ist gleichzeitig die am meisten verbreitete Form des jüdischen Volksliedes. Die Mutter klagt ihr menschliches, ihr weibliches Leid. Es spiegelt sich darin also auch die religiös-rechtliche Lage der jüdischen Frau ab. Das Weib ist nicht in vollem Sinne ein Mensch wie der Mann! Die Gebote Gottes „tariag mizweis“ (9) sind, ausser den drei direkt an die Frau gerichteten, nicht für sie bestimmt. Selbst ins Paradies kann sie nur um der Verdienste ihres Mannes, ihres Sohnes willen gelangen, und auch dann wird sie dort nur ein Fussschemmel - „a fusbejnkele“ - für den Mann sein. Im Liede „As ich wolt gehat dem Keisers eizreis“ (10) sagt die Mutter, ihren Sohn in den Schlaf wiegend:

Es wet [Wird] kumen a mol a zeit, as ich wel [will] darfen af jener welt gehin,
Welen [Werden] die tieren [Türen] fun gaan-eiden [Gan-eden (Paradies)] ofen stehin
Und du mein lieb Kind,
Solst sein a frumer un a guter,
Wet men sogen af jener welt :
„Lost arein dem zadiks [Gerechter] Mutter.“
Schlof mein Kind, schlof mein Kind.
Solst laing leben un sain gesund.

Einige Wiegenlieder sind voll Trauer und Kummer. Es ist kein Lied, es ist ein Weinen und Stöhnen. So ist das
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Lied „Dos Kind ligt in wigele“. Gross ist die Trauer der Mutter, die ihr Kind verloren, doch schlimmer noch das Los des Kindes, das seine Mutter verloren.

I.
Dos Kind ligt in wigele
Mit ausgeweinte eigen,
Die mame ligt auf der erd,
Die fis ausgezeigen [Beine ausgestreckt] …
Nito [Nicht da] kein mame, nito kein nechome [Trost] …

II.
Dos Kind ligt in wigele,
Unchalescht seigung [Begehrt nach der Mutterbrust]
Die mame ligt in Keiwer [Grab],
Mit scharbens auf die eigun …

III.
Nito kein mame, nito kein nechome …
Gleten un kamen,
Wer wet dir, mein Kind,
Die wiegele ausramen?
Nito kein Mame, nito kein nechome …

IV.
Wer wet dir, mein Kind,
Kleiden un zieren,
Wer wet dir, mein Kind,
Zu cheider [Schule] awegfieren?
Nito kein mame, nito kein nechome …

Hört man das Lied singen, so tief rührend und traurig, - Tränen steigen einem in die Augen.


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Anm. 8. ferner
Anm. 9) tarjag mizwoth (die 613 Ge- und Verbote des Gesetzes, die das gesamte religiöse Leben des Juden regeln.)
Anm. 10) Wenn ich des Kaisers Schätze hätte.



3. Kinderlieder;
Kinder- und Schullieder sind sehr gering an Zahl, wie in ihrer Qualität nach Melodie und Inhalt. Die Gründe dieser Tatsache sind nur zu klar. Schon im sechsten Jahre kommt das Kind in den ‚Cheider’ (Schule). In einem kleinen Zimmer das häufig allen Regeln der Hygiene
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spottet, in Schwüle und Schmutz, verbringt das Kind lange Jahre, Tag für Tag über das Buch gebeugt. Sobald das Kind die Kunst des Lesens und Schreibens bewältigt, geht man zum Studium der Bibel über und der komplizierten Kommentare ‚Rasche’ und ‚Tosafot’, dann aber auch des Talmuds. Der Geist des Kindes wird tagelang zum Studium philosophischer Wissenschaften angehalten, zur Ergründung dialektischer Finessen die auch dem Erwachsenen nicht wenig Kopfzerbrechen bereiten. Wer hätte da noch Lust Lieder zu singen?“ Und es ziemt sich ja auch für den jüdischen Knaben nicht, seine Zeit mit Gesang zu verschwenden: „Es is nit schtat, es past nit far a jidischen Bocher, schkozim [11] singen, un a jed derf 12] lernen.“ Auf solche Belehrungen des Rebbe folgt oft eine Ohrfeige oder auch die Rute … Wer sollte da auch singen? … In der russischen Schule aber werden die Kinder mit russischen Liedern erzogen, die ja na und für sich sehr schön, jedoch dem Geist des jüdischen Kindes völlig fremd und unverständlich sind. Trotzdem finden sich auch zwischen den Kinderliedern einige sehr hübsche, so „hob ich a por oksen“, „Michalke“ und andere.

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Anm. 11) Christenjungen
Anm. 12) Muss


4. Liebeslieder;
Liebeslieder sind ein Erzeugnis der Schaffenslust späterer Zeiten. Bis zur zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts galt die „Liebe“ für sündhaft, und deshalb als unzulässig. Für die Kinder sorgten die Eltern und wählten ihnen Braut oder Bräutigam ganz nach eigenem Geschmack und Gutdünken, ohne nach den Wünschen der so Bedachten viel zu fragen. Die Verlobung fand ohne Mitwissen der unmittelbar interessierten Personen statt, welche erst nachträglich beim Darbringen der Glückwünsche vom Geschehnis erfuhren. „Masol tow [Gratuliere], du bist geworen a Kale [Braut], Maol tow, du bist geworen an choson [ Bräutigam]“.  Braut und Bräutigam sahen einander bis nach der Vermählung nicht. Der moderne durchsichtige Brautschleier erinnert noch an das früher undurchsichtige Tuch, das Gesicht und Gestalt der Braut einhüllte. allerdings lag auch wenig
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Grund vor, nach den Wünschen der künftigen Eheleute zu fragen: 16jährige Knaben wurden oft mit 14jährigen Mädchen vermählt. Es kamen auch Heiraten im Alter von unter zehn Jahren vor. So gab es denn auch keine „Liebeslieder“ in des Wortes eigenster Bedeutung, sondern nur Lieder „über Braut und Bräutigam“. In diesen Liedern träumt die Braut nur „a talmid chochom [Gelehrter] far a man“ zu bekommen. Nach den fünfziger Jahren, in der Periode „Haskalah“ [Aufklärung] entsteht auch das Liebeslied. Einige Lieder sind in ihrem Inhalte von tiefer Poesie, alle von lyrischer Trauer durchdrungen. In einem Liebesliede vergleicht der Bräutigam die Wangen seiner Geliebten mit Rosenblättchen, ihre Aeuglein mit dunklen Kirchen:

„Deine bekelech wie rose blumen,
Deine eigelech wie schwarze Karschen,
Zu bekummen fun sei a sisinken Kusch. [süssen Kuss]“



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