Kisselhoff: DAS JUEDISCHE VOLKSLIED (5)
Erschienen in: DIE JÜDISCHE GEMEINSCHAFT. Reden und Aufsätze über zeitgenössische Fragen des jüdischen Volkes, herausgegeben von Dr. Ahron Eliasberg, Berlin. Jüdischer Verlag, 1913, 22 S.
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Im Liede „Schpazieren seinen mir beide gegangen“ weint das vom Geliebten verlassene Mädchen und bereut, den Ratschlägen der Mutter nicht gefolgt zu haben:

Ch’hob gespilt a liebe,
Ch’hob gemeint, s’wet sein gut!
Un izt vergist men
Wie Wasser mein Blut!
Oi, ch’hob geton asa sach [Eine solche Sache],
Ch’hob gor nit betracht,
Ch’hob gemeint, as s’is tog,
Zum sof [Schluss] is gor nacht!
Oi, mame, mame!
Du bist doch gerecht [Gerächt]:
As men folgt nit kein eltern,
Kumt aruis [Heraus] schlecht!

Das Mädchen ist viel offener als der Mann, ihre Liebe ist heller und stärker, sie lebt mehr mit ihrem Gefühl.

„Ich wel gein in ale gassen
Un wel schrein: wesch zu waschen.
Breit [Brot] mit Wasser wel ich essen,
S. 16
Taten, mamen, alz vergessen,
Abi [um nur] mit dir zusammen sein“

singt das Mädchen in einem anderen Liede – „sog mir du schein meidele“ – auf die Frage des Geliebten: „Wos west du tun in asa weiten weg?“ In sehr vielen Liedern beklagt das verlassene Mädchen sein Los oder schildert seine Leiden in der Trennung von dem Geliebten.


5. Hochzeitslieder;
Die Hochzeit ist das größte Fest, die größte Freude in der jüdischen Familie. Alle ihre Mitglieder, alt und jung, Onkel und Tanten nehmen nicht nur and er Trauung selbst, sondern auch an allen Ereignissen, die diesem Höhepunkt der Hochzeitsfeier vorausgehen, den allergrössten Anteil.

I.
Hecher, besser, die rod (1), die rod macht gresser!
Greis (2) hot mich Gott gemacht,
Glik hot er mir gebracht,
Hulet (3), Kinder, a ganze nacht …
Die mesinke (4) ausgegeben! (5)

II.
Itzig, Schpitzig (6), wos schweigst du mitem schmitzig (7),
Af die Klesmer (8) gib a geschrei (9),
Zi (10) schpilen sei, zi schlofen sei,
Reist die Strums (11) ale af zwei
Die mesinke ausgegeben! …

III.
Asik, masik [12], die bobe [13] geit a „Kosik“ [14]
Die ain-hore [15] set [16], nor set,
Wi si tupet [17], wie si tret,
Oi a simche, oi a freid [18]
Die mesinke ausgegeben! …


Worterklärungen
1. Rad (hier Reigen), 2. Gross, 3. Seid lustig, 4) Nesthäkchen, 5. Verheiratet, 6. scherzhafter Reim, 7. Fiedelbogen, 8. Musikanten, 9. Fahre an! 10. Ob, 11. Saiten, 12. Scherzhafter Reim, 13. Grossmutter, 14. Solotanz (Kosakentanz), 15. Unberufen, 16. Seht, 17. Aufstampfen, 18. Freude.

Die Freude über das glückliche Ereignis wird aber durch die bevorstehende Trennung von den Lieben, von den Ver-
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wandten, gestört, und das Hochzeitslied wird durch traurige Abschiedsklänge durchkreuzt:

Seit gesunter heit [1], meine liebe eltern,
Ich for fun aich awek
In a weiten weg …
Wu kein Wind, weet nit
Un wu kein feigele fliet nit
Un wu kein hon kreet nit! …

Freudlos erscheint der Braut ihr künftiges Los, zwischen fremden Leuten, weit in der Fremde, weit vom trauten Elternhause, in der fremden Stadt …

„Wie is bitter, mein liebe muter
A feigele on a nest,
Asei is bitter, mein liebe muter,
Schwer [2] und Schwiegers [3] Kest.“

heißt es in dem Lied „Die gilderne Pawe“ [4]. Dieses Lied hat allerdings, wie auch einige andere, eine allegorische Bedeutung. „Die gilderne Pawe“ - ist das jüdische Vok. „Die gilderne Feder“, welche der Vogel Pfau verloren  die heilige Lehre. ‚Schwer un schwigers kest’ - das Leben im Exil , nicht bei der lieben Mutter, sondern bei der bösen Schwiegermutter.


Worterklärungen
1. Gesund, 2. Schwäher (Schwiegervater), 3. Schwiegermutter, 4. Der goldene Pfau,


6. Soldatenlieder 
Die Mühsale des Soldatendienstes sind doppelt empfindlich für den (russischen) Juden, der oft die Sprache nicht kennt, dazu noch am Sonnabend arbeiten und „treif“ (Verbotenes, Unreines), „chaser“’ (Schweinefleisch) essen muss. Die Rekrutenpflicht der früheren Zeit aber mit all ihren Schrecken hat im Volksgedächtnis eine überaus traurige Erinnerung hinterlassen, die in den Soldatenliedern fortlebt. Die Eigenart des Soldatenliedes besteht in der Vermischung verschiedner Sprachen: Russisch, Jargon und Hebräisch, wobei verstümmelte russische Worte die Mehrzahl abgeben.



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