Kisselhoff: DAS JUEDISCHE
VOLKSLIED (3)
Erschienen in: DIE
JÜDISCHE GEMEINSCHAFT. Reden und Aufsätze
über zeitgenössische Fragen des
jüdischen Volkes, herausgegeben von Dr. Ahron
Eliasberg, Berlin. Jüdischer Verlag, 1913, 22
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sind immer plump und
unschön, sind daher gleich herausgefunden.
Schablonenhafte Melodie, hochfahrende, oft sinnlose
Wörteranhäufungen, schallende Reime,
„gram“ (2) ohne Sinn noch Verstand
– verraten sofort die Quelle – den
„Badchon“. Trotzdem sind auch diese
Lieder von einem Interesse eigener Art.
VII. Gruppen und Arten der
weltlichen Lieder.
Das weltliche jüdische
Lied zerfällt in zwei Gruppen: Lieder mit und
ohne Worte (der Text ist meistenteils im Jargon
gehalten). Die Lieder ohne Worte, chassidische und
traditionelle Hochzeitslieder (Klesmerlieder)
werden gespielt und gesungen und stellen eine
charakteristische Eigenart des jüdischen
Volkes dar. Das Vokallied ohne Worte nimmt im
Vergleich zum Liede mit Worden eine höhere
Rangstellung ein, ihr wird eine besondere mystische
Bedeutung beigelegt.
Bei Perez, dem besten
Schilderer des Chassidismus, findet sich in einer
seiner Erzählungen „Mekubolim“ (3)
eine Darstellung der Philosophie des Liedes, das im
Chassidismus eine besondere Stellung einnimmt und
zum Gegenstande spezieller philosophischer
Erforschung geworden ist … „In dem
nigun seinen do ásach bchinas (Gruppen)
… Es is cfranen a nigun, wos mus hoben werter
… Dos is gor a niederige bchino: a nigun, wos
singt sich allein, gor on Werter – a reiner
nigun“ Nor der nigun darf doch noch hoben a
kôl … un lipen, durch welche dos
kôl geht aruis! Un lipen – ferschteist
du – seinen doch gaschmies! Un dos kôl
afile es is an eideler gaschmies, gaschmies is es
… Los sein, as dos kôl steit afun
greniz zwischen ruchnies un gaschmies! Nor,
sai-wi-sai, der nigun, wos hert sich mit a
kôl, wos heingt op fun die lipen, is noch nit
rein … noch nit, kein emes’er ruchnies!
Der emes-er nigun ober singt sich gor on a
kôl … es singt sich inwenig, in harz,
in die gederim! Ot dos is der sod fun Dovid
hamelechs werter „Kol azmeisaei teimarnu
la’denoi“ in march fund die beiner
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Anm. 2. Reim.
Anm. 3. Die Kabbalisten
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darf singen, dort darf sein
der nigun, der hechster schemach far Gott, boruch
Hu! … Dos is nit a nigun fun a bosor wodom,
dos is kein ausgetrachter nigun! Dos is schein a cheilik
fun nigun, mit welchem Gott hot die welt bescharen
…fun der neischomo, wos er hot araingegosen
in ihr. Un asei singt die pamalio schel maailo
…“ (4)
Je nach den verschiedenen
Zeiten des jüdischen Lebens, die das
Jargonlied widerspielt, zerfällt es in
verschiedene Gruppen:
1. religiös-mystische
Lieder;
2. Wiegenlieder,
3. Kinderlieder;
4. Liebeslieder;
5. Hochzeitslieder;
6. Soldatenlieder;
7. humoristische Lieder;
8. Sittenlieder;
9. verschiedene Lieder
Wie jede Einteilung ist auch
die vorstehende zum Teil künstlich. Ein und
dasselbe Lied kann zu der einen oder zur anderen
Gruppe gezählt werden. Einige Lieder
könnten zu besonderen Gruppen zusammengefasst
werden: historische Lieder, Fest-, Familienlieder
usw.
Wir gehen jetzt zur kurzen
Kennzeichnung jeder Liedergruppe über.
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Anm. 4) „Es gibt
viele Stufen von Melodien …da gibt es eine
Melodie, zu der Worte gehören, das ist eine
ganz niedrige Stufe. Eine Melodie, die sich ganz
ohne Worte singt, ist schon reinere Melodie. Doch
bedarf diese Melodie noch der Stimme …und der
Lippen, aus denen die Stimme hervorgeht. Und Lippen
– verstehst du! – sind doch etwas
körperliches,. und die Stimme ist zwar von
edler Körperlichkeit aber körperlich ist
sie immerhin! … Lass meinetwegen die Stimme
auf der Grenze stehen zwischen Geist und Korper!
Doch sei dem, wie es wolle, eine Melodie, bei der
man die Stimme hört, die zu die Lippen
gebunden ist, ist noch nicht ganz rein … noch
nicht wahrer Geist. Die wahre Melodie singt sich
ganz ohne Stimme, sie singt innen drin, im Herzen,
in den Eingeweiden! Das ist der geheime Sinn von
König Davids Worten: „Kol azmothai
tomarna la’adonai.“ („Es sprechen
alle Gebeine zum Ewigen“.) Im Mark der
Knochen soll man singen, dort muss die Melodie
sitzen, der höchste Preis Gottes, gelobt sei
ER! Das ist schon keine Melodie eines Menschen von
Fleisch und Blut, das ist keine ausgeklügelte Melodie! Das ist schon ein Teil jener
Melodie, mit welcher Gott die Welt erschaffen hat
… von der Seele, die er in sie gegossen hat.
und so singt die pamalia schel maalo
(die nächste Umgebung Gottes).“
VIII. Verschiedene Arten der
Lieder mit Worten.
1. religiös-mystische
Lieder;
Den Synagogalliedern am
nächsten nach Musik und nach Inhalt stehen
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die religiös-mystischen
Lieder. In einigen davon erklingen heisse Bitten an
den Ewigen, voll Trauer und Hoffnung. Andere Lieder
behandeln das Leben, sein Wesen; Ziel und Sinn
menschlichen Daseins. „Eli, Eli, lama
asabtani? (5) … mit faier un flam hot men uns
gebrent, obzutreten fund uns hot doch keiner nit
gewagt, fun unser heiligen teiro, fun unser gebot
… Rete uns, rete uns amol far unsere oweis
aweiseinu.“ So klagt und weint das Lied: wenn
nicht um meinetwillen, errette mich um meiner
Väter willen, die ihr Leben preisgaben
für Glauben und Torah, um der Tausende
„Harugim“ (6) und kdeischim“
willen, der Märtyrer, die ihr Blut vergossen
… Im Liede „Der parom“ (7) wird
über das Leben und den Menschen gesungen. Das
Leben wird mit dem tiefen Meeresschlund –
„th’hom“ – verglichen, der
Mensch – „parom“ – mit
einem lecken Fahrzeig, das vom Ufer fährt.
Dieses Lied ist so bezeichnend, dass hier eine
Wiedergabe gestattet sei:
„Ba a Taich [Fluss], wos
sie is tief un breit,
ich seh a iberfohr bajn breg
[Ufer] schteit,
un ale zu ihm zihen.
Fun beide seiten, fun beide
bregen
Menschen, ferd und wegen
heilendig [Eilend] ahin
flihen.
Di ale Menschen winschensich
un bentschen [Beten],
Sei sollen glicklich ariber
die taich.
Unser leben is der Parom,
Die welt is der Thom
[Meeresflut]:
Brider, dos mejn ich take
[Wirklich] aich!
Nach tiefsinniger ist das Lied
„Die alte Kasche“ [Frage]. So lange die
Welt steht und der Mensch existiert, reizt die
Menschheit die uralte, ewige „Frage“
– die alte Kasche, eine riesig grosse Frage:
„Was ist das Leben, was sein Sinn,
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was soll es?“ Eine
grosse, beunruhigende Frage, die verschiedensten
Antworten gab darauf der Mensch in den
verschiedenen Zeiten. Doch jetzt wie früher
bleibt die Frage ungelöst –
„bleibt doch fort [8] die alte Kasche“
– und tritt ebenso an den menschlichen Geist
heran.
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Anm. 5: Ps. 22, Vers 2.
(„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich
verlassen““
Anm. 6. Die
Erschlagenen.
Anm. 7. Die Fähre
(russ.).