Die Wacht am Rhein.
I.
Die Wacht am Rhein, das ist der Titel,
Des Liedes, das im Schwange geht.
Es ist ein ganz probates Mittel
Für einen, der sonst Nichts versteht.
:I: Darum bei Mond- und Sonnenschein
Sing` ich nur stets die Wacht am Rhein,
Die Wi-Wa-Wacht am Rhein,
Die Wacht am Rhein. :I:
Soll ich nach Frankreich fortmarschiren,
Zu kämpfen in dem blut’gen Streit?
Ich mag mich nicht so ennuhren
Von wegen der Gemüthlichkeit.
:I: Ich sitz’ bei meinm Glase Wein
Und sin’ voll muth die Wacht am Rhein,
Die Wi-Wa-Wacht am Rhein,
Die Wacht am Rhein. :I:
Wer sich bei uns nicht ein will nisten,
Die Nase über Deutschland rümpft,
Den halten wir für keinen Christen,
Weil er auf Jottes Jabe schimpft.
:I: Wir schreien ihm in’s Ohr hinein,
Bis daß er taub die Wacht am Rhein,
Die Wi-Wa-Wacht am Rhein,
die Wacht am Rhein. :I:
II.
„Ach, wenn ihr blöden Jungen
wüßtet,
Was Menschenwürde, Freiheit heißt,
Wie ihr so tief erröthen müßtet
Ob diesem Weg, den ihr uns weist.
„Statt dessen schrei’n die Kinderlein
Nur immer fort die Wacht am Rhein,
Die Wi-Wa-Wacht am Rhein,
die Wacht am Rhein. :I:
Seid ihr im Nordbund abgestiegen,
küßt ihr die Stiefel eurem Herrn
Und lassen Recht und Freiheit liegen,
Und greift nach einem Ordensstern,
:I: Und meint dazu noch, frei zu sein
Und singt voll Muth die Wacht am Rhein,
Die Wi-Wa-Wacht am Rhein,
die Wacht am Rhein. :I:
Ihr dauert mich, ihr armen Thoren,
Euch macht die Knechtschaft wenig Pein.
Zu Sclaven seid ihr auserkoren
Und wollt des Landes Hüter sein.
:I: Ihr könnet Nichts, als kläglich
schrein
Das blöde Lied die Wacht am Rhein,
Die Wi-Wa-Wacht am Rhein,
die Wacht am Rhein. :I:
Geschichte / Kommentar:
Das Lied von „E.“ (wer auch immer das
war) lässt sich zuerst in Gustav Linkes Liederbuch aus dem Jahre
1872 feststellen. Es ist allerdings anzunehmen, dass es sich auch in
der ersten oder zweiten Auflage von Johann Mosts Liederbuch befand, die
uns leider nicht vorliegt. Immerhin hat Most über die Nutzung des
Liedes anlässlich einer Kundgebung beim Sedantag ein interessantes Zeugnis
in seinen Memoiren hinterlassen. Geschrieben ist das Lied auf die
Melodie des Krambambuli-Liedes. („Crambambuli das ist der Titel“).
Der (spieß)bürgerlichen
Stammtischgesellschaft des 19. Jahrhundert wird hier die „Wacht
am Rhein“ gleich doppelt um die Ohren gehauen. Das Lied wird
durch die Nutzung der Vorlage, eines Trinkliedes, ins Wirtshaus
„gebracht“. Wo es in der Realität bürgerlicher
Freizeitgestaltung bereits ständig präsent war, aber die
doppelte Moral bestimmte auch die Verwendbarkeit des Liedes und ist
somit nicht nur Kennzeichen der Zeit, sondern auch des Liedes. Gerade
das nationalistische Liedgut ist häufig aus seinem gewollten
heroischen oder staatsrepräsentativen Charakter herausgekommen und
findet seine Entsprechung in Augenblicken in denen der Alkohol aus
jedem Untertan einen Kaiser, oder zumindest seinen besten Vertrauten,
gemacht hat.
Eine Schlüsselszene in Heinrich Manns Roman
Der Untertan zeigt ein treffendes Bild der Feierabendkultur
kaisertreuer Nationalisten eines kleinen Provinzortes. Eine
Kneipenszene, in der die beteiligten „Helden“, unter
gehörigem Alkoholeinfluß, sich in ihrer Treue zu Kaiser und
Vaterland gegenseitig zu übertrumpfen versuchen, endet -
natürlich - irgendwann auf der Straße:
Die Herren hielten sich alle sehr gerade, und
manchmal schoß einer unvermutet ein Stück vorwärts. Mit
ihren Stöcken strichen sie tosend über die herabgelassenen
Rolläden, und im Takt voneinander unabhängig sangen sie die
Wacht am Rhein. (1)
Der Ausdruck Bierernst kommt ja nicht von
ungefähr. Hoffmann von Fallersleben hat eine solche Situation in
seinem Gedicht Spießbürger=Tugend beschrieben und da es auch
in Most`s Liederbuch enthalten ist.
1) Heinrich Mann: Der Untertan. München 1985.
S. 119 f. [zuerst 1918 erschienen].
Quellen:
Johann Most, Neuestes Proletarier-Lieder-Buch von
verschiedenen Arbeiterdichtern, 3. verbesserte Aufl., Druck und Verlag
der Genossenschafts-Buchdruckerei Lindenstraße Nr. 9, Chemnitz
1873, Nr. 15.
Gustaf Linke, Zeitgem. Volkslieder, Dresden 1872,
Nr. 3.
Most’s Proletarier-Liederbuch. In
fünfter Auflage zusammengestellt und herausgegeben von Gustav
Geilhof in Chemnitz, 1875, Nr. 11.
Max Kegel’s Sozialdemokratisches Liederbuch,
(3. Aufl.) Stuttgart 1891, Nr. 26.
Max Kegel’s Sozialdemokr. Ldb, (8. Aufl.),
Stuttgart, 1897, Nr. 29.