1 Bierburg war ein schönes Städtchen;
Wegen seiner holden Mädchen
War's bekannt so fern und nah,
Und der Geister Capua
Nannten es die Dichter.
2. D'rinnen wohneten die reichen
Börsenmäkler und dergleichen.
Draußen aber rund herum
Gab's viel schwarzes Publikum
Zwischen den Fabriken.
3. Ganz besonders abendnächtig
War die Gegend dort verdächtig.
Ganze Haufen konnt' man seh'n
Schimpfend stets beisammen steh'n
Auf die Staatsverwaltung.
4. Und die Herrn im hohen Rathe
Von dem Biergurgischen Staate
Riethen doch so brüderlich
Und vertheilten unter sich
Titel, gold und Würden.
5. Aber die in den Fabriken
Wollten 's ganze Jahr nur striken.
„Wenig Arbeit hohen Lohn!"
Hatten diese Kerle schon
Oft ganz laut begehret.
6. Einst, an einem Samstag Morgen,
War die Stadt in schweren Sorgen,
Die bis jetzt blos raisonirt,
Kamen nun heranmarschirt
An die Hunderttausend.
7. Thaten in der Luft 'rumfechten,
Sprachen was von "Menschenrechten",
Hoben einen Mann empor,
Der trug eien Rede vor
Revolutionärisch!
8. Endlich wählten die Banditen
Sich die Kecksten aus der Mitten,
Schickten sie mit frohem Sinn
In das Städtchen Bierburg hin
Um zu „unterhandeln".
9. Dorten war man schon seit Längsten
Vor dem Volk in Todesängsten,
Viele konnten*'s nicht besteh'n
Mußten schnell nach Hause geh'n
Und die Wäsche wechseln.
10. Doch der tapf're Bürgermeister
Der schon längst bekannt als Dreister,
Wollt' auch diesmal muthig sein,
Ließ sie in sein Zimmer ein
(Aber ohne Stöcke).
11. „Männer, sprach er, ihr seid
Männer,
nicht Gesetzeskenner,
Wie könnt' ihr euch untersteh'n
Haufenweis' spazier'n zu geh'n,
Wie am blauen Montag?"
12. Sprach darauf Strikist Zefises:
„Herr, wir sagen nichts als dieses":
Zog dann ein Papier, hervor,
D'rauf etwas geschrieben war,
Fast wie eine Drohung:
13. „Lang genug hab'n wir geschunden
Täglich sechszehn Arbeitsstunden.
Wenn die Zeit nicht reduzirt
Bald bis auf die Hälfte wird, -
Reduzir'n wir's selber!
14. „Ferner wollen wir nicht dulden
Länger mehr mit den paar Gulden
Wöchentlich und Kost und Bett;
Das engros-Versorgungs-G'rett
Muß sich endlich aufhör'n!
15. „Dann, damit wir besser wissen,
Was die hohen Herrn beschließen,
Werden künftig jedesmal
Wir den ganzen Rathhaussaal
Rund herum besetzen.
16. „Das sind von so vielen Dingen
Drei die wir zur Kenntniß bringen.
Sollte man uns nicht versteh'n,
Dann - vielleicht kann es gescheh'n -
Daß wir wieder kommen!" -
17. Solches las Zefises munter
Von dem Blatt Papier herunter
In des Bürgermeisters Hand,
Der ganz starr vor ihnen stand,
Legt er's, und - empfahl sich.
18. Vor der Stadt die große Menge
Stimmte an Triumpfgesänge,
Als die Deputation
Machte den Bericht davon,
Wie sie keck gewesen.
19. Doch so bald vorbei der Schrecken,
That man in's Gefängniß stecken,
Jene, wie es sich gebührt,
Die die Bande angeführt
Gegen ihre Rathsherrn.
20. Dorten saßen sie geduldig,
Bis man sie erkannt als schuldig,
Einem hohen Magistrat
Durch die frevelhafte That
Furcht gemacht zu haben.
21. Mußten dann noch weiter sitzen
Und für ihr Verbrechen schwitzen;
Doch sie zeigten keinerlei
Buße und zerknirschte Reu;
Die verstockten Sünder.
22. Was sie ändern wollten schändlich,
Blieb beim Alten selbstverständlich,
G'rade so wie vor und eh'
Sind zufrieden Wenige,
Und die Meisten schimpfen.
23. Doch Staat Bierburg ist gerettet,
Seit die Zwölfte angekettet,
Niemand hört den Rathsherrn zu
Und es herrscht ide alte Ruh'
Wieder und die Ordnung.
24. Freilich wird uns manchmal bange,
Denn man weiß ja nicht wie lange
Dieser Friede dauern kann.
Geht der Strike von Neuem an,
Weiß man nicht, wie's ausgeht!
Geschichte / Kommentar:
Das Lied schrieb Andreas Scheu während seiner
Haft in Garsten im Februar 1871. Als Vorlage diente ihm das Lied
„Die Hussiten vor Naumburg“, das Karl Seyferth 1832
verfasste. Die Melodie ist Silcher/Erk 2019 zufolge ungarischen
Ursprungs.
„Bierburg“ befindet sich in mehreren
Liederbüchern der organisierten Arbeiterbewegung des 19.
Jahrhundert.
Quellen:
Lieder der Arbeiterbewegung im 19. Jh.
Johann Most, Neuestes Proletarier-Lieder-Buch von
verschiedenen Arbeiterdichtern, 3. verbesserte Aufl., Druck und Verlag
der Genossenschafts-Buchdruckerei Lindenstraße Nr. 9, Chemnitz
1873, Nr. 6.
Most’s Proletarier-Liederbuch. In
fünfter Auflage zusammengestellt und herausgegeben von Gustav
Geilhof in Chemnitz, 1875, Nr. 5.
Max Kegel’s Sozialdemokratisches
Liederbuch 3. Auflage, (Verlag von J. K. W. Dietz) Stuttgart
1891, Nr. 58.
Arbeiter-Liederbuch. Eine Sammlung
sozialdemokratischer Lieder und Deklamationen, 21. Auflage. New-York
1894, Nr. 66.
Max Kegel’s Sozialdemokratisches Liederbuch
(8. Aufl.), Stuttgart, 1897, Nr. 60. S. 89.
Andreas Scheu. Deutsche Arbeiter-Dichtung. Eine
Auswahl Lieder und Gedichte deutscher Proletarier, Bd. 5, Stuttgart
1893, S. 20-24.
Sonstige Quellen:
Friedrich Silcher, Friedrich Erk, Allgemeines
Deutsches Kommersbuch, Lahr 1919 (111. Aufl.), S. 596., Nr. 654 (I.
89.)