Das ostjüdische
Liebeslied
Jüdische Liebeslieder
An dieser Stelle dokumentieren
wir Vorstellungen und Erleben von jüdischen
Liebesliedern.
Kisselhoff, S. DAS JUEDISCHE
VOLKSLIED, Berlin 1913, S. S. 14
4. Liebeslieder;
Liebeslieder sind ein
Erzeugnis der Schaffenslust späterer Zeiten.
Bis zur zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts galt die „Liebe“ für
sündhaft, und deshalb als unzulässig.
Für die Kinder sorgten die Eltern und
wählten ihnen Braut oder Bräutigam ganz
nach eigenem Geschmack und Gutdünken, ohne
nach den Wünschen der so Bedachten viel zu
fragen. Die Verlobung fand ohne Mitwissen der
unmittelbar interessierten Personen statt, welche
erst nachträglich beim Darbringen der
Glückwünsche vom Geschehnis erfuhren.
„Masol tow [Gratuliere], du bist geworen a
Kale [Braut], Maol tow, du bist geworen an choson [
Bräutigam]“. Braut und
Bräutigam sahen einander bis nach der
Vermählung nicht. Der moderne durchsichtige
Brautschleier erinnert noch an das früher
undurchsichtige Tuch, das Gesicht und Gestalt der
Braut einhüllte. allerdings lag auch wenig
Kaufmann, Fritz Mordechai
(Hrsg.). Die schönsten Lieder der Ostjuden. S.
48.
Als zusammenfassende Bemerkung
zu den Liebesliedern seien einige Sätze aus
Cahans lesenswerter Einleitung zu seiner
Volksliedersammlung (S. XXXIII-XXXV) in deutscher
Übertragung vorangestellt. Es handelt sich
hier um die bis vor kurzem weit verbreitete
Meinung, als sei das Liebeslied und sogar das Wort
„Liebe“ noch vor 60 Jahren bei den
Ostjuden unbekannt und verfehmt gewesen.
„Dies alles
läßt sich für die
gutbürgerlichen Klassen behaupten, aber nicht
für die jüdische Masse schlechthin. Bei
den untersten Volksschichten, zwischen
Schneiderburschen und Schustergesellen,
Bäckern und Fuhrleuten, Schneiderinnen und
Dienstmädchen, waren Liebe und Romane nicht
nur keine Seltenhit oder ein zufälliges
Vorkommnis, sondern eine ganz häufige,
alltägliche Erscheinung. – Diese (die
Lieder von der Liebe) gehen insgeheim um zwischen
dem Jungvolk und werfen ihren Klang in die Welt
finsterer Kellerwohnungen und Schenken. Deshalb
mußten diejenigen, die mit den untersten
Volksschichten nicht in nahe Berührung kamen,
zu der Vermutung gelangen, als gäbe es unter
Juden keine Liebe und demnach keine Liebeslieder.
– Das jüdische Liebeslied war und blieb
von Anfang an im Volksmund verborgen. Es trat kein
mal in die Öffentlichkeit heraus und wurde auf
Familienfesten nicht gesungen, auch nicht zu
Unterhaltungen oder sonst im Beisein
gutbürgerlicher Leute, wo badchunische und
andere Liedarten immer Zuhörer fanden. Als
Schöpfung der untersten Volksschichten
mußte das Liebeslied in jenen Kreisen
verbleiben, wo es entstanden war; sein echt
lyrischer Inhalt, seine anspruchslose Innigkeit und
Herzlichkeit stand zu sehr im Gegensatz zu der
trockenen badchunischen Atmosphäre, die in
früheren Zeiten die mittleren Volksschichten
beherrschte. Und in der Tat, was für ein
Aussehen hätte es gehabt und wie
lächerlich wäre es erschienen, wenn ein
jüdisches Mädchen sich vor eine
Gesellschaft von Männern und Frauen hinstellte
und ein Lied dieser Art sänge.“
Quelle:
Kisselhoff, S. DAS JUEDISCHE
VOLKSLIED. Erschienen in: DIE JÜDISCHE
GEMEINSCHAFT. Reden und Aufsätze über
zeitgenössische Fragen des jüdischen
Volkes, herausgegeben von Dr. Ahron Eliasberg,
Berlin. Jüdischer Verlag, 1913, S. 14.
Kaufmann, Fritz Mordechai
(Hrsg.). Die schönsten Lieder der Ostjuden.
Siebenundvierzig ausgewählte Volkslieder
herausgegeben. Berlin., Jüdischer Verlag,
(1935), S. 48.