Ein Leben
1. Sein Vater war ein armes Luder,
der sich ein armes Luder nahm.
Am Hungertuche nagte beide –
er war schon übrig eh’ er kam.
2. Zeit zur Erziehung hatte niemand –
drum ließ man der Natur den Lauf.
So wuchs der Proletarierknabe
als freies Kind der Straße auf.
3. Von Elternliebe kannt er wenig:
Denn in des Kummers eis’gem Hauch
da stirbt der Liebe Lotosblume. –
Der Magen frißt das Herz – sein
Brauch.
4. Und außer rechnen, schreiben , lesen
in seiner Schul’ Elementar –
da lernt er auch das Liebesdrama
von Joseph und der Potiphar.
5. Dann an der Lehrzeit Marterpfahle
schlich traurig hin nun Jahr um Jahr; -
bis daß auch dieser Prügelkursus
bei wenig Lern’ zu Ende war.
6. Jetzt war er frei – jetzt konnt er
wandern
frei! – Welcher Hohn! – Dies Freisein
hieß
aus einem Käfig in den andern,
bis einstens ihn die Kraft verließ.
7. Und „auf der Walze“ freiem Leben
da sah er scharen zieh’n durchs Land
von „Tippelschicksen“ (1),
„Wolkenschiebern“ (2)
und „duften Kunden“ (3) allerhand.
8. So zog er rüstig seine Straße,
er schaffte hier, er schaffte dort.
Doch wenn die Arbeit ging zu Ende –
da mußt er eben wieder fort.
9. So lebte er mit tausend andern.
Er nährete sich schlicht und recht.
Bezahlte immer seine Schulden
und blieb sein leben lang ein Knecht.
10. Und als er krank und Invalide –
mit elf Mark Monatshonorar,
konnt er als Reichsrentier nun prassen
und leben wie ein Bourgeois.
11. Er kroch herum auf dem Planeten
zu seiner und zu andrer Qual,
und eines Tages nun da starb er
halt eben in dem Hospital.
12. Da er an eine Krankenkasse
nicht den geringsten Anspruch hat,
begrub man ihn als Ehrenbürger
Auf Kosten seiner Vaterstadt.
13. Man legt ihn in die Nasenquetsche (4)
des Erdenglücks verstoßnen Sohn,
und fuhr ich lautlos fort – dem läuten
läßt keine Armendirektion.