Gleichheit.
1. Ob wir rothe, gelbe Kragen,
Helme oder Hüte tragen,
Stiefel tragen oder Schuh,
Oder ob wir Röcke nähen
Und zu Schuhen Drähte drehen:
Das thut, das thut nichts dazu!
2. Ob wir können präsidiren,
Oder müssen Akten schmieren
Ohne Rast und ohne Ruh!
Ob wir just Collegia lesen
Oder aber binden Besen:
Das thut, das thut nichts dazu!
3. Ob wir stolz zu Rosse reiten
Oder ob zu Fuß wir schreiten
Fürbaß unserm Ziele zu!
Ob uns Kreuze vorne schmücken,
Oder Kreuze hinten drücken:
Das thut, das thut nichts dazu!
4. Oder ob wir Neues bauen
Oder Altes nur verdauen,
Wie das Gras verdaut die Kuh!
Ob wir in die Welt was schaffen
Oder nur die Welt begaffen:
Das thut, das thut was dazu!
5. Ob im Kopfe etwas Grütze
Und im Herzen Licht und Hitze,
Daß es brennt in einem Nu;
Oder ob wir hinter Mauern
Stets im Dunkeln träge kauern:
Das thut, das thut was dazu!
6. Ob wir rüstig und geschäftig,
Wo es gilt zu wirken kräftig,
Immer tapfer greifen zu,
Oder ob wir schläfrig denken:
Gott wird’s wohl im Schlafe schenken;
Das thut, das thut was dazu!
7. Drum ihr Bürger, drum ihr Brüder,
Alle eines Bundes Glieder,
Was auch Jeder von uns thu’ -
Alle, die dies Lied gesungen,
So die alten wie die Jungen,
Thun wir, thun wir denn dazu!
Quelle:
Johann Most, Neuestes Proletarier-Lieder-Buch von
verschiedenen Arbeiterdichtern, 3. verbesserte Aufl., Druck und Verlag
der Genossenschafts-Buchdruckerei Lindenstraße Nr. 9, Chemnitz 1873, Nr. 46
Arbeiter-Liederbuch. Eine Sammlung
sozialdemokratischer Lieder und Deklamationen. Einunszwanzigste,
bedeutend vermehrte Auflage. Verlag von Brausewetter & Benedix,
Alt-Bitamo, Druck von William Lehmann, 7. Avenue 596., New-York 1894, Nr. 12, S. 15.
Bürgerlied
1. Ob wir feine Röcke tragen
Aufgeputzt mit rotem Kragen,
Ob ein Ordenstern daran;
Oder ob in groben Leinen
Ohne Zeichen wir erscheinen:
Das macht Alles nicht den Mann.
2. Ob uns lange Titel schmücken,
Schmeichler uns die Hände drücken
Und uns sehen freundlich an;
Oder ob, aus nied’rem Stand,
Uns kaum Jeman kennt im Landes:
Das macht Alles nicht den Mann.
3. Reichtum von den Vätern erben,
Statt durch Fleiß ihn zu erwerben,
das macht auch noch nicht den Mann;
Aber unablässig schaffen,
Und im Wirken nie erschlaffen:
Dieses, dieses macht den Mann.
4. Wo es gilt, die Wahrheit sagen,
Keine Scheu vor Menschentragen,
Scheuen selbst nicht Acht und Bann;
Jedem frei in’s Auge schauen,
Und der eig’nen Kraft vertrauen:
Dieses, dieses macht den Mann.
5. Tief sich vor dem Höhern bücken,
Und den Niedern unterdrücken.
Das macht, wahrlich! nicht den Mann;
Für die Armen mutig kämpfen
Und der Reichen Hochmut dämpfen:
Dieses, dieses macht den Mann.5.
6. Nun wohlan! wer eine Kehle
Hat und eine brave Seele;
Schließ’ sich unserm Kreise an;
Bei der Menschenwürd’ und Ehre,
In der Tief’ des Herzens schwöre
Jeder: „Ich will sein ein Mann!“
Quelle:
Demokratisches Liederbuch zum Gebrauch der
Volksvereine, Hrsgg. von einer Kommission des Demokratischen Vereins in
München, Verlag von Robert Lutz, Stuttgart, 1895. Nr. 28, S. 30f.
Titel: Bürgerlied
Autor: Uhlich
Geschichte / Kommentar:
Das als „Bürgerlied“ bezeichnete
Lied. dokumentiert das Selbstbewusstsein des Bürgertums und der
Demokratiebewegung in der Zeit des Vormärz. Es ist auch Ausdruck
des sich verstärkenden politischen Interesses. im Deutschen Bund.
Der Gedanke der bürgerlichen Gleichheit und Freiheit kommt darin
gut zum Ausdruck. Unüberhörbar ist die Aufforderung an den
politisch abstinenten Mitbürger, sich politisch zu engagieren.
Geschrieben hat es wahrscheinlich im Mai 1845
Adalbert Harnisch (1815–1889, Pseudonym Hans Albus) auf die
Melodie von „Prinz Eugen, der edle Ritter“ für den
„Bürgerverein“ von Elbing. Ganz eindeutig ist die
Autorenschaft allerdings noch nicht, denn es werden auch andere
Verfasser genannt. Wolfgang Steinitz bringt z. B. Leberecht Uhlichs als
Autor in Spiel, doch seine Quelle wurde bis heute nicht aufgefunden.
Es wurde später vielfach in
Bürgervereinen gesungen und ist auch unter dem Titel
„Gleichheit“ in den meisten Liederbüchern der
Arbeiterbewegung des 19. Jh. abgedruckt. Ausnahme ist das
„Demokratische Lieder zum Gebrauch der Volksvereine“ aus
dem Jahr 1895. Dort ist es als „Bürgerlied“ tituliert,
hat aber einen anderen Text „ Ob wir feine Röcke
tragen“ (s.o.) In dieser Form stammt das Lied aus „Liederbuch der Mecklenburgischen
Dorfzeitung.
[Hrsg. von Johann Heinrich Sievers.] Wismar [1850], S. 47–50
(Titel: „Die Freiheit siegt!“).
In den vorliegenden Liederbüchn
für Handwerker-Vereine aus Berlin (1848) und Potsdam (1859) wurde
als Titel jeweils die erste Zeile genommen und als Autor
„Volkslied“ angegeben.
Nach längerer Nichtbeachtung, fand es In der
Folkbewegung ab Mitte der 1960er Jahre wieder neue Freunde, allerdings,
wie vieles aus dieser Szene nur für eine begrenzte Zeit.