Klage.
1. Morgenrot, Morgenrot!
Überall vom Putz bedroht.
Talfen wir so in den Gassen,
Wird uns bald der Deckel fassen;
Mich und manchen Kamerad.
2. Ach wie bald, ach wie bald
Schwindet auf der Walz’ der Draht!
Gestern noch die Schicks am Arme,
Heute schon mit dem Gendarme,
Morgen in den Käfig ‘nein!
3. Darum still, darum still,
Mag es kommen, wie es will!
Mit dem Stenze in der Rechten
Wollen wir noch weiter fechten:
Ich und mancher Kamerad.
Fassung aus „Der Kunde“
Der Kunde 1928 (1. Jahr) Nr. 7/8, S. 18.
Morgenrot, Morgenrot
Überall vom Putz bedroht,
Tippeln wir so durch die Gassen,
Bald wird uns der Deckel fassen.
Mich und manchen Kamerad,
Mich und manchen Kamerad.
Ach wie bald, ach wie schad,
Schwindet auf der Walz der Draht.
Gestern noch die Schicks am Arme,
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Wörterbuch:
Putz = Polizist (Schutzmann),
Talfen = betteln
Deckel = Polizist (Gendarm (Ostwald,
Rinnstein Bd. 1: „Deckel“)
Walz = Wanderschaft
Draht = Geld
Schickse = wandernde Frau
(Mädchen)
Stenz = Stock (der Handwerksburschen)
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Heute schon mit dem Gendarme,
Morgen in den Käfig rein,
Morgen in den Käfig rein.
Darum still, darum still,
Mag es kommen, wie es will.
Mit dem Packel in der Rechten
Gehen wir noch weiter fechten,
Ich und mancher Kamerad,
Ich und Mancher Kamerad.
(Mitgeteilt von G. Brügel.)
Geschichte / Kommentar:
Diese Kundenklage parodiert die Verse von Wilhelm
Hauff (1824), die selbst eine Umdichtung des aus dem 18. Jh. stammenden
Volksliedes: „Gut gedacht. :,: Aller Freud' ein End gemacht"
ist (siehe dort). Hans Ostwald hat das Lied bei seiner eigenen Wanderschaft
aufgeschnappt und aufgeschrieben. In seinem Roman „Landstreicher
schreibt zu dem Thema u.a.:
„Aber nicht nur Couplets und irgendwelche
anderen oft gesungenen Gesangsstücke dienen den Vagabunden als
Unterlage mit ihrer Melodie, mit ihrer Musik. Sie benutzten auch echte
Volkslieder. So das Hauffsche ‘Morgenrot’. Es enthält
den leichtherzigen Vagabundenton, der sich über alles
hinwegsetzt, hinwegsetzen muß. Ich teile es darum hier
vollständig mit: [Abdr. Liedtext]
Diese Verse sind die umfassendste, knappste und
launigste Darstellung des Lebens auf der Walze, die ich kenne.
Das elende Dasein: überall von Gesetzeswächtern beobachtet
und bewacht - trotzdem sie doch keine bösartigen Verbrecher sind
-, überall scheel angesehen, immer neben der Lust das Leiden - und
doch die männliche Stärke, die wohl die Gefahren sieht und
erkennt, aber trotzdem mit ganzer starker Leidenschaft an ihrem
Unternehmen, an der Wanderschaft hängt.
Hier offenbaren sich auch
‘Taugenichtse’. Aber Taugenichtse von anderer Art als jener
Eichendorffs. Nicht so voll harmloser, ergrübelter Romantik und
Kunst. Nicht so voll ungestörter, geforderter Faulenzerdaseins.
Aber dafür auch nicht so unwahrscheinlich, so knabenhaft. Alles
voll strotzender Männlichkeit und mit der ganzen Fülle des
wirklichen Lebens. nicht zarte aquarellistische Zeichnung von
Maienlandschaft mit ihrem hellen Blütenhauch - aber robuste,
ehrliche, subjektive Darstellung erlebter Vorgänge.“
Quellen:
Der Kunde Nr. 7/8 1928, 1. Jahr, S. 18; Der
Kundenspiegel (S. 14-22). II. Pennenlieder,
HANS OSTWALD, Landstreicher. In: Die Kultur.
Sammlung Illustrierter Einzeldarstellungen, hrsgg. v. Cornelius
Gurlitt, Bd. 8, Berlin o.J., S. 63, weiter Erklärungen S.
62-65.
Hans Ostwald, Lieder aus dem Rinnstein Bd. 1,
Leipzig und Berlin 1903, S. 81, Rubrik „Was Verkommene
singen“ (1.6.48).
Wörterbuch:
Putz = Polizist (Schutzmann),
Talfen = betteln
Deckel = Polizist (Gendarm (Ostwald, Rinnstein Bd.
1: „Deckel“)
Walz = Wanderschaft
Draht = Geld
Schickse = wandernde Frau (Mädchen)
Stenz = Stock (der Handwerksburschen)