Fünf Söhne (fief sön)
1. Ik hev se nich up de Scholen gebracht,
ik hev nich einmal över se gelacht,
se gaent nich spelen up der Straten.
Ik hev se up de wilde See gesant,
eren levesten Vater to söken.
2. Dat Eine starf den bittern Doot,
Dat Ander starf van Hunger so groot,
Dat Drüdde worde gehangen,
Dat Verde blef up de wilde See doot,
Dat Bifte flot achter dem Lande.“
3. Wan he wol up den Kerkhof quam
He reip God sinen hemmlischen Vater an
Und bedet al mit Vlite:
Da em God wolde de Sünde vorgewen
Un halen en in sin Rike.
Geschichte / Kommentar:
Die Ballade von der verlassenen Frau, die ihre
fünf Söhne in die Welt schickt, ihren Vater zu suchen ist
eine der schönsten niederdeutschen Balladen. Die älteste
Quelle aus dem Jahre 1575, Laßbergs westfälischer
Liederhandschrift, hat das Lied lediglich als Fragment aufgezeichnet.
Auf eine niederdeutsche Herkunft deuten die Reime doot : groot; gut :
ut deuten hin, ihre Überlieferung ist allerdings fragwürdig.
Als Informant einer ostfriesischen Quelle aus dem Jahre 1835 mit der
Überschrift ‚Der ungetreue Vormund’ (Auserlesene
aechte Volksgesänge.. ., S. 39) stehen zwei Namen, hinter denen
sich jedoch lediglich eine noch dazu sehr unzuverlässige Person
verbirgt: A. Kretzschmer und Zuccalmaglio.
Erk-Böhme schreiben dazu:
Dieses niederdeutsche Liedfragment liegt in zwei
Lesarten vor:
a) als „ostfriesisch aud dem Munde des
Volkes,“ eingesangt vom Kriegsrath A.
Kretzschmer zu Anklam in Pommern an W. von
Zuccalmaglio, der es zuerst zum Druck gebracht in seinem mit Prof.
Baumstark herausg. Volksgesängen verschiedener Völker.
Darmstadt 1836, S. 39. Wiederhold in Kretzschmer’s Volkslieder 1838, I, Nr. 50,
blos 3 Strophen mit Melodie. Diese Melodie bringt auch Erk, Liederhort
Nr. 31, aber als Text folgende Lesart.
b) als westphälisches Lied hat es Mone,
Anzeiger 1838, Sp. 84 gebracht, dem es W. von Harthausen mitgetheilt
hatte aus einer halbzerrissenen Handschrfift des 16. Jahrh., aus einem
aufgehobenen Nonnenkloster Westfalens stammend, mit der Jahreszahl
1575. H. bemerkt dazu: „Das schönste Lied scheint mir diese
Romanze, welche noch als Volkslied lebt und in Westfalen häufig
gesungen wird.“
Harthausen’s westfäl. Text ist
wiederholt bei Uhland Nr. 118, Erk, Ldh. Nr. 31 und Scherer, Jungbr. S.
60. Doch ist er mangelhafter als der friesiche. Der Anfangsstrophe
fehlt die 2. Zeile (Uhland glaubt, die erste Zeile sei verloren und
könnte gelautet haben: Ik hebbe vyf leve Söneken hat.)
Die 3. Stro. enthält Widerspruch durch
Verwechslung der Person: Anfangs wird erzählt, sie (se) kam auf
den Kirchhof und bat, daß Gott ihr (er) vergebe; dazu paßt
nicht: sie rief sinen hemml. Vater an, daß er ihn (en) in sein
Reich hole. Man kann doch unmöglich annehmen: die reuige Mutter
habe Gott gebeten den Landstreicher (ihren 5. Sohn) zu sich zu holen?
Diese Confusion haben Mone, Uhland, Erk und Scherer stehen lassen. Ich
zog die fries. Lesart vor, darin durchweg von einer männlichen
Person geredet wird, was Kr. zu der Ueberschrift „Der ungetreue Vormund“
[falsch, bei Kretzschmer heißt es: Der
böse Vormund] veranslaßte,
Während Uhland „fünf Söhne“ setzt. Endlich
hat der westfäl. Text folgende moralisierende Zusatzstrophe:
De Sundags-Missen de sint wol guet,
Wan men sie horet kon Ende ut
Un bedet al mit Vlite:
Dat uns Got wold de Sünde vorgeven,
Un holen uns in sin Rike.
Ueber den Inhalt und Ursprung dieses Liedes, das
jetzt nicht mehr gehört wird, herrscht vollständiges Dunkel.
Nicht einmal wird aus dem Fragment klar, wir die schlechte Erziehung
der 5 Söhne verschuldete, ob die verwittwete Mutter oder ein
Stiefvater und Vormund; doch ist erstere Annahme natürlicher. Zu
beachten ist der in der Hdschr. dem Lied angehängte Spruch:
„Woe (wer) sik mit horen (Huren) nert und
mit narren ferst, den ist g?t noch ere beschert.“
Das scheint eine Anspielung auf das Leben und
Treiben der besungnen Mutter zu sein, die nach dem Tode ihres Mannes
(der als Seefahrer starb) einen ehrlosen Wandel führte, dabei die
Erziehung ihrer 5 Söhne vernachlässigte, daß diese als
Taugenichtse verkommen, bis endlich über die Mutter die Reue kam.
– Die Melodie klingt düster, alterthümlich und mag mit
dem Texte mindestens aus dem 16. Jahrh. stammen. Das Lied hat dieselbe
Form wie das Stortbecker- und Lindenschmiedlied.
¶ 1,1 Ik hef. (hev, hebbge), ich habe.
1,3 Se gaent, sie gingen (Kr.: se k onnten.)
1,5 söken, suchen
2,4 bleef, blieb.
2,5 flot (flut) achte Lande, floh (flüchtete)
aus dem Lande, durchs Land, wurde Landstreicher. (Nach Graf I, 187
heißt after (=per) laute farent, wallent, wallend, durchs Land
ziehend.)
3,1 Kernkof, Kirchhof.
3,2 reip mit Vlite, rief mit Fleiße.
Version nach Ludwig Uhland, Alte hoch- und
niederdeutsche Volkslieder
mit Abhandlung und Anmerkungen, Stuttgart und
Berlin. Bd. 1 (Buch 1-3), o. J., S. 175
Fünf Söhne. Nr. 118
1. …
ich hebbe se nicht up de scholen gebracht,
se gaent nicht spellen up der straten,
ich hebbe se up de wilden se gesant
eren levesten vader to soken.
2. Dat eine starf den bittern doit,
dat ander starf van hunger so grot,
dat drude wort gehangen,
dat verde blef up de wilden se dot,
dat vifte flut achter dem Lande.’