Der hübsche Schreiber
1. Der Mond der scheint so helle Zu Liebes
Fensterlein ein:
Wo nun zwei Lieb beieinander sind, Die scheiden
sich bald von hier!
2. Der Wächter an der Zinnen stand, Hub an
ein Lied und sang:
„Du sollt zu meinem Herren kommen, Und mach
ihm die Weile nicht lang!“
3. ’“ Zu deinem Herren komm ich nicht,
Er ist mir ja nicht hold;
Ich habe zu lang geschlafen Bei seiner Jungfrauen
stolz.“’
4. „ Hast du so lange geschlafen Bei seiner
Jugfrauen stolz,
So sollst du morgen hangen, Ein Galgen ist dir
bereit!“
5. „Warumb soll ich morgen hangen? Ich bin
doch je kein Dieb;
Das Herz in meinem Leibe Das hat die Fräulein
lieb.“
6. Und da der hübsche Schreiber Zu der hohen
Thür ausreit,
Da gegnet ihm ein Zimmermann, Ein Galgen war ihm
bereit’.
7. „Wie stehst du hier ein Galgen, Ein
schwarzer Rabenzweig!
Ach soll darinne versauren Mein feiner, junger
Leib!“
8. Und da der hübsche Schreiber Die erse
Sprossen auftrat,
Er sprach: „Ihr sieben Landsherren, Gebt mir
eins Wortes Macht!
9. Ob dar ein Fräulein käme, Wollt
für euer Bettlein stahn,
Wollt ihr sie herzen und küssen, Oder wollt
ihr sie lassen gahn?“
10. Zuhand sprach sich ein alt Greise, Ein alter
greisgrauer Mann:
„Ich wollt sie herzen und küssen Und
schließen in meine Arm.“
11. Und als der hübsche Schreiber Die letzte
Sprossen auftrat,
Do stand des jungen Markgrafen Weib Und sehr
für den Schreiber bat.
12. „Nun steig herab, mein Schreiber, Und
friste deinen jungen Leib!
Für dich so hat gebeten Des jungen Markgrafen
Weib.“
13. „Und hat für mich gebeten Des
jungen Markgrafen Weib,
So stärke sie Gott von Himmel Und frist ihren
jungen Leib!“
Geschichte / Kommentar:
Das Lied vom jungen Schreiber und der
Markgräfin sehen Erk-Böhme als Vorläufer des Liedes vom
jungen Zimmergesellen an. Es ist spätestens aus dem 16. Jh.
überliefert.
Frankfurter (Ambraser) Liederbuch, 1582, Nr. 78.
Abdr. Uhland 98, Fl. Bl. um 1660 (Mittler 137; Wdh. e, 54). Ohne die
erste Strophe und in wenig Worten abweichend bei Töppen,
Volksthüml. Dichtung, S. 107, aus Hancke’s Sammelbuch, 1621.
– Niederdeutsch im Niederd. Liederb. um 1600, Nr. 139, neugedr.
Nieder. Liederb., Hamb. 1884, Nr. 39: „De Maan de schynt so
helle.“ (11 Strophen). –
Quelle:
Ludwig Erk u. Franz Magnus Böhme, Deutscher
Liederhort, Bd. 1, Leipzig 1925. Nr. 128, S. 445f.
Joseph Bergmann, Das Ambraser Liederbuch vom Jahre
1582, Stuttgart, 1845, Nr. LXXVIII, S. 77ff.