Berliner Eckensteher
von Adolf Glaßbrenner
Unter allen Plebejern des stolzen Berlins
verdienen sie als
die zahlreichste und merkwürdigste Klasse zuerst genannt zu
werden; wer je durch die großen und schönen Straßen
der Preußischen Residenz gewandelt ist, dem wird gewiß
diese komische Nation aufgefallen sein, die sich durch ihre Sitten,
durch ihren immerwährenden Durst, durch ihre Faulheit und ihre
grenzenlose Gleichgiltigkeit gegen Alles was in ihnen und um sie
vorgeht, (mit Ausnahme von Prügeleien) und durch einen handfesten
Witz auszeichnen.
Sie sind bei Alt und Jung unter dem Namen
„Eckensteher“ bekannt; Spötter nennen sie auch Sonnenbrater, weil sie -
wenn sie nicht zufällig einen Gang, etwa in die
Destillations-Anstalt (1) , haben - mehrere Stunden lang in der Sonne
sitzen bleiben, ohne sich irgend anders zu beschäftigen, als durch
eine Prise nehmen oder Schlafen. - Seitdem ihnen von Obrigkeits wegen
ein Schild mit einer Nummer gegeben ist, heißen sie auch Schildkröten.
Nur Geheime-Räthinnen - diejenigen Damen,
welche in Berlin den Übergang vom Bürgerstande zum Adel
bilden, nennen sie Lazzaroni (2), und zwar nur aus dem einzigen Grunde, weil
dies Wort ein fremdes ist. Damen von Stande hassen hier die deutsche
Sprache und gebrauchen sie höchstens als Faden, mit welchem sie
die verschiedenen Flicken der italienischen, französischen und
englischen Sprache zusammennähen, und auf diese Weise die
Narrenjacke ihrer Unterhaltung vollenden. Doch - wir hatten etwas
Wichtigeres vor; wir sprachen von Eckenstehern und nicht von den Damen
von Stande. -
Die Kleidung dieser Straßen-Beamten ist
höchst einfach und zerrissen; sie tragen gewöhnlich eine
Jacke die löcherlich ist, ja man sieht sogar welche die barwade (Göthe sagt:
barhaupt) gehen. Auf dem linken Arme hat jeder ein Schild mit einer
Nummer - damit man sie im Falle des Greifens bei der Polizei fassen kann - über ihren Schultern hängt eine
Hilfe, (hilflos sind wenige), und ihre Kopfbedeckung ist eine
Mütze, auf welche die wechselnden Farben des Schicksals so viel
Eindrücke gemacht haben, daß man ihre ursprüngliche
Farbe selten erkennen kann.
Die Schildkröten stehen oder sitzen vielmehr an einer
Straßenecke, von der ein Branntweinsladen nicht fern ist. Ihr
Charakter ist menschenfreundlich, unbescheiden und standhaft, sie
tragen Alles mit Geduld und fordern hernach 10 bis 15 Silbergroschen.
Das Nebengeschäft dieser Leute ist Meubel (3) karren und
Wäsche rollen, zu ihren Hauptgeschäften gehört:
Müßiggang, Schnapstrinken und - Prügeln.
Letzteres ist ihr größtes
Vergnügen. Kein Fest, es mag einen Namen haben, welchen es will,
endigt sich ohne Prügelei. […] Da sitzen sie des Abends in
der elenden Schnapsstube und rauchen gemüthlich aus der kurzen
Pfeife den vaterländischen Knaster, der, beiläufig gesagt,
schon selbst zu Stänkereien Anlaß giebt; da sitzen sie mit
übereinander geschlagenen Beinen und schauen sich in die von der
Sonne gelb gebrannten Gesichter, und plaudern entweder von dem letzten
Treffen bei Wisotzky’s oder Nünnike’s, (4) wo dieser
oder jener noch bedeutende Documente am Kopfe trägt; oder sie politisieren. Im Politisiren
überhaupt sind alle Berliner Plebejer, Meister. -
Ohne eine Idee von der innern Staatseinrichtung
irgend eines Landes zu haben, ja ohne Kenntniß der neuesten
Ereignisse der Welt, werfen sie die unsinnigsten Gedanken zusammen und
schütteln endlich eine Meinung oder einen Schluß heraus, der
gewöhnlich also lautet:
„Da laß ick meinen Kop, det et Krieg
jibt!“
[…] Selten lacht der heitere Himmel der
Eintracht in ihren Unterhaltungen, ist dies aber wirklich einmal der
Fall, so rufen sie selbst einige trübe Wölkchen der
Zwietracht herbei, die sich nach und nach aufthürmen und endlich
durch ein fürchterliches Gewitter zertheilen. Es muß ein
organischer Fehler in dem zarten Nervensystem der Eckensteher sein,
aber ohne Prügel
können sie nun einmal nicht schlafen, und sollte es, vermöge
der herbeieilenden Polizei, auf dem harten Brette der Wachstube sein;
nur dann schließen sich ihre Augenlieder, wenn ihre Rippen weich
geworden sind.
Hat nichts Veranlassung zu Streit gegeben, so
nimmt irgend Einer das unschuldigste Wort übel und rächt sich
zuvörderst durch einen: „Ochse“ Esel!“ oder
sonst durch andere Benennungen aus dem weiteren Kreise des Thierreiches
gegriffen. Dieser, die Ehre eines Eckenstehers im Leibe und empört
über das Verkennen seiner Persönlichkeit, erwidert den
Gruß des Gegners auf dieselbe Weise, trägt aber wo
möglich noch etwas stärker auf. - Haben sie endlich das
mächtige Reich der Verbal-Injurien erschöpft, so gehen sie zu
den Real-Injurien über, die in sogenannten Katzenköpfen,
Maulschellen, Ohrfeigen, Knuffen, Buffen oder ähnlichen
Variationen über das Thema: „Hiebe“ bestehen. Aber sie
wollen nicht die Einzigen sein, die genießen. Die Fackel der
Zwietracht ist einmal in die durch den Spiritus leicht
entzündbaren Gemüther geworfen, und das Feuer greift um sich.
Dieser geht zu jener Partei über, jener zu dieser - und nun
geht’s los! Stöcke werden aus allen Winkeln gesucht;
unschuldige Dinge, die nie einen solchen Beruf geahnt haben, werden zu
Waffen gestempelt, aus den Schemeln werden die Beine gerissen, und was
irgend nur Faust heißt, fällt auf irgend einen Theil des
nebenmenschlichen Körpers dermaaßen nieder, daß
verschiedene Öffnungen entstehen, welche das erhitzte Blut auf die
theilnamlosen Kleider abkühlen lassen.
So verstreicht der Abend unter fröhlichen
Genüssen aller Art, von denen das Finale der schönste war.
Sind die zärtlichen Eindrücke der Freundschaft vorüber,
so reichen sich unsere Helden die Hände, gehen ruhig nach Hause
oder in die Wache, und sitzen am andern Morgen auf der steinernen
Treppe eines Eckhauses; nehmen aus der Seitentasche ihr Stück
Brod, einen Schnitt Speck und die Schnapsflasche hervor, und
frühstücken.
Vermöge ihrer Faulheit sitzen sie ganz ruhig,
wenn Jemand naht und einen von ihnen dingen will; pomadig warten sie es
ab, welchen der Fremde vorziehen wird, und beneiden den Gewählten
auch dann noch nicht, wenn er mit dem verdienten Gelde heimkehrt; denn
sie haben sich ja, während er tragen mußte, von ihrem
Nichtsthun - ausruhen können.
Auch für die Liebe ist das Herz des
Eckenstehers ganz abgestumpft. Wenn jeder gemeine Soldat, jeder
Hausknecht, jeder Handlanger in Berlin sein Liebchen hat, das sich des
Abends vom Heerde losreißt, um ein Stündchen mit dem
Liebsten zu schwatzen und zu kosen, und um ihm vielleicht mit den
erübrigten Braten u.s.w. eine seltene Mahlzeit zu machen, so wird
man nie einen Eckensteher sehen, der auch nur mit einem Mädchen
spricht, viel weniger kos’t. -
Darin liegt eine eigene Charakteristik dieser
Leute. Ihr Herz ist nicht mehr weich genug für die höheren
Güter der Erde, durch eine niedere Erziehung, durch immer
währende Knechtschaft, und durch frühe Ausschweifungen ist
ihr Herz rauh und kalt geworden, und Freundschaft und Liebe ziehen
spurlos an ihnen vorüber. Nichts als die Prügel und der
Schnaps vermag einen Eindruck auf sie zu machen, und ohne Hoffnung, ja
ohne den Willen,
je ein besseres Loos zu erringen, verleben sie ihre Tage in ewiger
Gleichheit. (…)
1) Kneipe.
2) obdachlose Straßenbevölkerung
Neapels.
3) Möbel [franz. meuble, von lat. mobilis
„beweglich“], die beweglichen Stücke einer
Innenraumausstattung. (dtv-Lexikon Bd. 12, München 1980, S. 238.
4) Namen von Lokalen.
Quelle:
Adolf Glaßbrenner: Berliner Eckensteher, in
A. G.: Unterrichtung der Nation, Ausgewählte Werke und Briefe in
drei Bänden, Band 1, Köln 1981, S. 56-60;
Erstveröffentlichung in: Adolf Brennglas: Berlin wie es ist - und
trinkt, Berlin 1932. Nach: Klaus Bergmann (Hg.), Schwarze Reportagen.
Aus dem Leben der untersten Schichten vor 1914: Huren, Vagabunden,
Lumpen, S. 184-188.
Lied der Eckensteher
(Nach bekannter Melodie.)
Det beste Leben hab’ ick doch;
Ick kann
mir nich beklagen,
Pfeift ooch der Wind durch’s
Aermelloch,
Det will ick schonst verdragen.
Det Morjens, wenn mir hungern dhut,
Eß
ick ‘ne Butterstulle,
Dazu schmeckt mir der Kimmel jut,
Aus
meine volle Pulle.
Ick sitz mit de Kam’raten hier
Mit alle,
jroß un kleene;
Beleidigt ooch mal eener mir,
So
stech’ ich ihm jleich eene!
Und drag ich endlich mal wat aus,
So kann ick Jroschens kneifen,
Hol wieder meine Pulle ‘raus
Un dhue eenen pfeifen.