Wir leben wie die Sklaven
(Zieglerlied Version A)
1 Wir leben wie die Sklaven
hier auf der Ziegelei;
Wenn andere Leute noch schlafen,
Ist bei uns schon die Nacht vorbei.
2. Des Morgens, wenn die Sterne noch blinken,
Kommt der Brenner schon ins Haus,
Ruft laut zum Kaffeetrinken;
Zum Bette muß alles hinaus.
3. Dann fängt man an zu suchen
Nach Strümpfen und nach Schuh’,
Dabei ein leises Fluchen
Hört man mitunter dazu.
4. Und bei dem Kaffeeschmause (1)
Hat man nicht lange Zeit;
Denn draußen vor dem Hause
Steht der Meister schon bereit.
5. Aber sitzt man ein wenig zu lange,
Dann heißt es gleich: „Vorwärts,
heraus!“
Dann geht man angst und bange
betrübt zur Tür hinaus.
6. Dann geht es in die Karre,
Man schiebt ohn’ Unterlaß,
Dann wird man wie en Narre
Vom Schweiße pudelnaß.
7. Des Morgens die ersten Stunden
Die fallen dem Magen so schwer,
Hat man die erst überwunden,
Die andern die kriegen wir schon her.
8. Und wenn der Koch holt Wasser,
Und der Mittagszug kommt an,
Ruft er mit seinem Basse
Uns laut den Mittag an.
9. Dann geht es wieder nach Hause
Wohl um den großen Tisch,
Dann gibt’s eine Stunde Pause,
Dann wird man wieder frisch.
10. So geht’s dann immer weiter
Bis Vesper und wer weiß,
Des abends erst nach neune
Gibt’s wieder Milch und Reis.
11. Will man sich des Sonntags ergötzen
In der Gegend bei Gladbach umher,
So heißt es gleich: Steine einsetzen!
Die Plätze, die müssen leer!’
12. Oder scheint es mal zum Regen,
Ruft der Meister: ‚Nun alle herbei!
Ihr müsst die Matten auflegen,
Die Steine gehns sonst entzwei!’
13. Dies wird man bald zuwider,
Wär’ erst nur der Sommer vorbei!
Ei, dann geh’ ich mein Leben nicht wieder
Nach gladbach auf die Ziegelei!
Karl Wehrhan, Fr. Wienke, Lippische Volkslieder,
Detmold, 1912, Nr. 18, S. 31.
(Wehrhans Text mit Melodie im DVA).
Wir leben wie die Sklaven
(Zieglerlied Version B)
1. Wir leben wie die Sklaven
hier auf der Ziegelei,
wenn andre Leute schlafen,
ist unsre Nacht vorbei.
2. Des Morgens um halb viere
der Brenner kommt ins Haus
und ruft laut: Kaffeetrinken!
Zum Bett muß alles heraus.
3. Jetzt geht es an das Suchen
der Strümpfe und der Schuh,
und manches leise Fluchen
hört man auch oft dazu.
4. Dann geht es an den Kaffeetisch,
hat auch nicht lange Zeit,
denn draußen vor der Türe
steht der Meister schon bereit.
5. Jetzt fangt man an zu wandern
mit der Karre hin und her,
der eine spricht zum andern,
ob’s nicht bald Frühstück
wär.
6. Die ersten studnen vorm Frühstück,
die fallen dem Magen so schwer,
sind die erst überwunden,
die andern kriegt er schon her.
7. Des Mittags um zwölfe,
dann geht’s an den Erbsentisch,
dann gibt’s ne Stunde Pause,
da wird man wieder frisch.
8. Und sind die Erbsen ausgebrannt
zwei fingerdick am Rand,
sie sollen wohl bekommen sein,
der Hunger treibt alles hinein.
Schwelentrup, Lippe, 1949 aufgezeichnet von
Hilhelm Hansen; vgl. seine Bemerkung dann obei bei Nr. 124b.
Geschichte / Kommentar:
Die beiden Versionen des Zieglerliedes haben wir
von Wolfgang Steinitz übernommen, der in beiden Fällen auf K.
Wehrhan, „Das lippische Zieglerlied“ verweist.
Für die Version B sind Noten vorhanden, die
1949 aufgezeichnet worden waren.
Quelle:
Karl Wehrhan, Fr. Wienke, Lippische Volkslieder,
Detmold, 1912, Nr. 18, S. 31.
Vgl. auch K. Wehrhan, das lippische Zieglerlied,
Zeitschr. f. rhein. u. westfäl. Volksk. 24. 1927, 165-172,
Wolfgang Steinitz, Dt. Volkslieder demokratischen
Charakters aus sechs Jahrhunderten, Berlin (Ost) Bd. 1, S. 303f.
wo allerdings nur ein als fliegendes Blatt um 1880
erschienenes Spottlied mit 14 achtzeiligen Strophen behandelt wird, das
keinen einzigen Vers mit dem hier angeführten lippischen
Zieglerliedern Nr. 124B und 125 gemein. hat. Die Str. 1-2:
1. … die Meister
werd’n all Tage dreister.
2. … die Lipper
wird’n alle Tage dicker.
haben jedoch in den anderen Varianten des Liedes
Nr. 124 Entsprechungen (s. S. 302) und sind offenbar von dort
übernommen.
Interessant sind die Bemerkungen ebenda S. 170
über dem Zieglerdichter Fritz Wienke in Brakelsick, dessen neues
Zieglerlied freilich nicht von dem frischen oppositionellen Geist der
alten lippischen Zieglerlieder enthält. von einem solchen
dichterisch begabten und dabei selbstbewussten lippischen Ziegler
stammt das hier aufgenommene Zieglerlied; zu Wenn die Ziegler wollen was verdienen siehe Nr. 124 B.
1
Bei Wehrhan, Lipp. steht: Und auch, auch, das unrhythmisch ist
fehlt in der von mir verglichenen Originalaufzeichnung im DVA.