Aus der Vorrede zur ersten Auflage
Wer das Büchlein verstehen will, der nehme es
als „Unsere Lieder“, und denke sich unter den
Rauhhäuslern über 120 Menschen, denen ein ernst und ein
fröhlich Lied eine wahre Herzensfreude ist. Wenn die Sonne vom
blauen Himmel her so hell und lustig durch’s Grüne scheint,
wenn es in den Werkstätten hämmert, hobelt und schnarrt, wenn
wir gar heiter und glücklich über die Felder und im
schattigen Wandsbecker Holze wandern, wenn der Feierabend im Sommer die
Knaben in der schönen Kastanie (sie ist wie ein von Blättern
und Aesten erbauter Pallast) sammelt, und sie dann auf den Zweigen
schaukeln und in dem hohen Wipfel jubeln, wenn die Mädchen und die
geräuschlose arbeit her sitzen oder in ihren Blumengärtchen
ihre Herrlichkeiten besehen oder unter den Tannen im Schatten kauern, -
dann singt es und klingt es oft aus jeder Brust, und Jeder
macht’s so gut er kann. Wer sich die nachstehenden Lieder als die
anspruchlosen Zeichen solcher innigen Freude in solch einem Leben
in’s Herz klingen läßt, der wird sich mit uns an ihnen
freuen, wird sie mit singen und dieses oder jenes derselben mit zu dem
seinen machen.
Das ganze Büchlein trägt überhaupt
das Zeichen seiner ursprünglichen Bestimmung sehr stark an sich.
Es war zunächst nur die Absichte, die von uns hier gesungenen oder
zu singenden Lieder für unsern nächsten Hausbedarf zu
vervielfältigen. So ist von einem eigentlichen Plan nur wenig zu
sehn. Es steht ja Jedem frei, die Lieder zu
S. IV
ordnen wie er will und kann. Die Hauptsache ist,
daß Jeder singe mit Lust und Freude und zu seinem Liede mache was
jener Sänger „in vollen Tönen schlägt“:
Ich singe wie der Vogel singt,
Der in den Zweigen wohnet.
Gute Freunde, die gern einmal ein Lied mit uns
singen oder unter uns singen hören, sind die Veranlassung,
daß das Büchlein in mehrere Hände kommt, und mögen
es nun verantworten, wenn Andere tadeln, daß es geschiehen ist;
die ursprüngliche Absicht war nicht die Veröffentlichung.
September 1844
Zur zweiten Auflage.
Die um mehr als 100 Lieder vermehrte Auflage
unserer Lieder ist, wie die erst Auflage, lediglich aus dem
Bedürfniß unseres Hauses hervorgegangen. Auch diese Auflage
würde nicht über dne Kreis unserer Hausgenossen
hinausgekommen sein, wenn nicht die weit Verbreitung der ersten es zu
einer Art Pflicht gemacht hätte, die vielen dieserwegen gestellten
Anforderungen zu befriedigen. Die vorliegende kleine Sammlung macht gar
keine Ansprüche, und darf keine machen, aber daß die Vielen
und zunächst unsern hiesigen Kindern und Hausgenossen Freude
machen wird, dessen ist sie gewiß. Ich gestehe gern, daß es
auch mit unter vielen ganz anders gestalteten Arbeiten, wie von jeher,
so auch jetzt wieder, eine große Freude gewesen ist, die Dichter
und Sänger sich unter uns zu einem so großen, schönen
Chor versammeln zu sehen, um uns des deutschen Sang und Klang zu
lehren, mit dem der Gott unsers Volkes vor allen andern Völkern
das unsrige so reich beschenkt hat. Das unvolksthümliche, gespreizte Wesen der Liedertafeldn, wie diese jetzt
gemein beschaffen sind, die Philisterhaftigkeit, mit der in andern
Kreisen gerade der Jugend die naturwüchsigen Wurzeln und
Blüthen des Gesangslebens abgegraben und abgestreift werden,
gleichwie die Zurückhaltung, mit der andere ernster gestimmte
Kreise das Lied des Volkes am liebsten auf den Choralgesang be-
S. V.
schränken möchten, - fordern freilich
Jeden, der dazu Gelegenheit hat auf, das Seine zu thun, daß in
immer weiterem Umfange das gesunde,
christlich-nationale Element auch im
Volksliede wieder zu seinem vollen Rechte komme. Vielleicht erkennt dieser und jener
an, daß auch dies Büchlein dazu einen kleinen Beitrag
liefern kann; wenigstens wünscht es die Ueberzeugung, daß
das Volkslied auch schon im Jugendliede eine sehr hohe Bedeutung hat,
zu bethätigen und zu verbreiten. – Das Büchlein ist
kein gemachtes, sondern in einer größeren
Hausgenossenschaft, zu der jetzt an 200 Menschen gehören, seit 20
Jahren gewachsen und darin selbstgewurzelt. Deswegen ist auch wohl hie
und da ein Liedchen geblieben, daß sonst weggelassen wäre.
In dieser zunächst beschränkten
Bestimmung des Büchleins war auch die Gränze bei der Auswahl
gegeben; der Gesichts- und Lebenskreis der Jugend durfte nicht
überschritten werden. Der Kundige wird sehen, daß das
Aeußerste der Gränze betreten, aber daß sie nicht
übertreten ist. Wem das hie und da doch so scheinen möchte,
dem bitten wir, von solchem einzelnen Liede abzusehen.
Von Nr. 127 an steht eine Reich von Liedern ohne
Noten; ich wünschte, daß unsere Kinder sie kennen lernten,
auch noch ohne sie singen zu können, aber ich hoffe, auch
später noch zu manchem derselben schöne Weisen zu erlangen.
Wie ein Freund unsers Gesanges mehrere Mendelssohnsche „Lieder
ohne Worte“ (s. p. 254ff.) für den vollen Chor mit Texten
von Spitta eingerichtet, - ich denke, es werden mit uns Viele Herrn v.
Roda dafür Dank wissen, - so bringt und vielleicht ein anderern
musikalischer Freund zu diesen Worten ohne Weisen, sowei sie
überhaupt singbar sind, ein passende Melodie, für die wir
ebenso dankbar sein würden. – Herr v. Roda hat auch die
Güte gehabt, die Noten vor dem Druck durchzusehen und mannigfach
zu bessern, wofür ich demselben hier meinen herzlichsten Dank
sage.
Die melodielosen Lieder bilden zugleich den
Uebergang zu einer Reihe von Volks- und Jugendlidern, die
überwiegend religiöen Inhaltes sind, wiewohl diese Gattung
auch in den vorangehenden keineswegs fehlt. Es war die Absicht, hier
ein Auswahl der besten der Art aus älterer und neuerer Zeit
zusammenzustellen; Choräle sind an dieser Stelle absichtlich nicht
mit aufgenommen, sie gehören nich in diesen engeren Kreis.
Im Ganzen sind wehr viele ein- zwei- und
dreistimmige Lieder aufgenommen. Ich habe dabei zunächst unsere
hiesigen Kinderfamilien im Auge gehabt; dieselben gebrauchen Lieder, zu
deren Durchführung zwölf Kinderstimmen ausreichen. Ebenso
habe ich dabei
S. VI
an so viele unserer entlassenen Brüder
gedacht, die andere Lieder kaum brauchen können, weil ihnen die
Männerstimmen in den ihnen anvertrauten Anstalten und Schulen
fehlen. Die vollchörigen Stücke fehlen aber in diesem
Liederbuche auch nicht, weil sie in unserm Hause, wo an
Männerstimmen kein Mangel ist, recht an ihrem Platze sind. Der
hiesige volle Chor umfasst außer dem Sopran- und Altstimmen
zusammen zwischen 50 und 60 Tenöre und Bässe; derselbe singt
Fugen aus Händels Messias und Motetten von Haydn, Michael Bach und
andern Meistern. Doch sind in diesem Heft alle diese
größeren Singstücke weggeblieben. Dieselben
müssten ein zweites, ganz anders gestaltetes Bändchen bilden.
Der Anhang giebt, außer einigen für
liturgische Zwecke bestimmten Stücken, nur einige Proben des in
unserer Hausgemeinde ganz einheimisch gewordenen vierstimmigen
rhythmischen Chorals, die den Wunsch andeuten mögen, daß in
der evangelischen Kirche mehr und mehr der Schatz des Chorals gehoben
werden möge, den uns ein Winterfeld und Tucher und nach ihnen so
viele Andere als ein ächt evangelisches Kirchengut wieder
nachgewiesen haben.
Was aber das Ganze der Lieder am letzten Ende will
und soll, das sagt die Hirtenflöte in
der Hand de guten Hirten auf dem
Titelblatt.
Horn im Juni 1853.
Dr. Wichern.