Die Lage der Wandergesellen
in der 2. Hälfte des 19.
Jahrhunderts
(Clemens Theodor Perthes,
1883/1984, S. 16-23)
Ein großer, wenn auch
vielfach wechselnder Teil unserer Nation bringt
jahraus jahrein sein Leben auf der Landstraße
zu. Abgesehen von der steigenden Zahl der
Vergnügungsreisenden ist an jedem Tage des
Jahres in jeder größeren und kleineren
Stadt das Geschlecht der Commis Voyageurs zu
treffen; Hausierer ziehen in ihren
abgegrenzten Handelsrevieren umher, und der
Lebküchler und Krämer mit Nürnberger
Tand schlägt bald auf diesem, bald auf jenem
Markte seine Bude auf. Konzertgeber und Renz und
Wollschläger führen nicht minder ein
Nomandenleben wie die letzten Ausläufer und
Karikaturen der Kunst, die jedes Dorf als Orgeldreher und
Harfenistin, als Policinello und Grimassier zu
sehen bekommt. Nicht nur der Kamel- und
Bärenführer, der Savoyarde mit seinem
Murmeltier oder Affen und der alte Matrose mit dem
Seehunde im Kübel oder der Schildkröte
in der Tasche, sondern auch die großen
Eigentümer der Menagerieen und Dioramen haben
die Landstraße zur Heimat; 19 732 Krämer
und Lumpensammler zugen
1852 allein in Preußen umher und 9917
Musikanten machten gewerbeweise in
Wirtshäusern Musik. […]
Mitten hinein in die
heimatlose Bevölkerung ist nun auch das
Handwerk geworfen, und die Gefahr liegt nicht fern,
daß es sich mit ihr vermischte. Die Schuster,
Schneider und Glaser zwar, welche auf den
Dörfern, namentlich den von Städten
entfernt liegenden, umherziehen und bald auf
diesem, bald auf jenem Hofe für ein
Nachtlager, ein Mittagsessen und ein paar Pfennige
in barem Gelde arbeiten, sind der geringen Zahl
wegen wenig bedeutend; aber wichtiger wie die
gesamte andere Wanderbevölkerung zusammen sind
die Wandergesellen. […]
[…] während der
Wochen vor Weihnachten, Ostern und Pfingsten halten
namentlich die Schneider- und Schuhmachermeister
ihre Gesellen fest, bald nach den großen
Festen dagegen werden die Werkstätten leer und
die Herbergen voll; jede
Mobilmachung oder Einberufung der
Reserve oder Landwehr in einem größeren
deutschen Staate macht des Wanderns weniger, jede
Teurung und jeder andere Umstand, der auf
Verringerung der Arbeit einwirkt, macht des
Wanderns mehr. ...
... So oft ein
Wanderbuch nachweist, daß der Inhaber einige
Wochen bald an diesem, bald an jenem Orte,
bald bei diesem, bald bei jenem Meister einige
Wochen gewesen ist, heute Arbeit angenommen, morgen
aber sich wieder fremd gemacht hat, so
läßt sich mit Sicherheit annehmen,
daß er ein Vagabond ist oder auf dem
Wege sich befindet, es zu werden. ...
... Wir sind in Deutschland
von Kindesbeinen an so sehr daran gewöhnt,
kräftige, gesunde junge Männer, den Hut
in der Hand, neben dem Wagen herlaufen oder an den
Hausthüren stehen zu sehen,
um Pfennige oder Groschen
zudringlich zu erpressen,
daß uns das Widerliche und
Verkommene eines solchen bettelhaften Wesens kaum
noch auffällt; (...) Es giebt noch jetzt
Gesellen, die lieber hungern, wie einen Zehrpfennig
sich erbitten; aber weil oft wirklich die Not zum
Bitten drängt, gilt das Fechten doch im
Handwerksstand nicht als Betteln und hat seinen
entehrenden Charakter verloren. (...) Seitdem
durch die Eisenbahnen und
Dampfschiffe gerade auf den
besuchtesten Straßen die Wagen
verdrängt sind und dadurch das Betteln auf der
Heerstraße weniger einträglich
geworden ist, haben die Künste und Listen,
sich durch den Schein äußerster Not eine
Gabe vor den Häusern der Stadt zu erpressen,
unglaublich zugenommen; (...) für die Pfennige
aber kann der Empfänger schon ein Glas
Branntwein und für zwölf Pfennige einen
Branntweinrausch sich kaufen, und der Almosengeber
hat sich wider Wissen und Willen zu einem
Verbündeten des gefährlichsten Feindes
der Wandergesellen gemacht.
... bald will der eine bald
der andere für wenig Geld einen lustigen Abend
haben, ein Versucher und Verführer in
Gestalt eines lange umhergezogenen, vielerfahrenen
Gesellen wird nicht leicht fehlen; das junge, noch
frische, unverdorbene Blut geht mit, das
Zusammensein wir zu einem
Branntweingelage; freche Reden und schmutzige
Lieder werden laut, anfangs scheu von weitem
erkennen, daß hier eine Saat gestreut wird,
welche dem Teufel reiche Ernte verheißt.
Vor zehn Jahren war die
wandernde Handwerksbevölkerung zugleich der
Herd, auf welchem mancher politische Gifttrank
gebraut war, der von hier aus schnell in weite
Kreise des Volkslebens verbreitet wurde. Der
Handwerksbursche ist beweglicher und
entzündlicher wie der Bauernbursche; er
ist physisch kräftiger, geistig
rücksichtsloser und an das Zuschlagen mehr
gewöhnt wie die übrige städtische
Jugend. In erregter Zeit wird es einem gewandten
Agitator niemals schwer sein, den zündenden
Funken hier oder dort in einen größeren
oder kleineren Kreis der
jungen urteilslosen
Arbeitsgesellen eines Ortes zu werfen,
wie es seit 1830 und
1840 in der Schweiz
geschah, und von einem solchen
Mittelpunkte aus zieht dann mehr wie die
Hälfte alljährlich als Wandergesellen
hinaus in die Weite. Jeder Einzelne findet jeden
Abend einen Kreis auf der Herberge, welchem er die
kaum empfangene Lehre verkündet, und am
folgenden Morgen schon gehen zehn und zwanzig neue
Missionäre des Umsturzes nach allen vier
Weltgegenden hin, um am Abend in einer Anzahl
verschiedener Herbergen neue
Anhänger zu gewinnen;
mit steigender Schnelligkeit verbreitet
sich die Lehre und die Lust der
Revolution unter den
Gesellen Deutschlands und wird durch sie in
die Werkstätten und Häuser der Meister,
auch unter Lehrlingen, Dienstboten und in die
Familien gebracht. Auf diesem Wege ward unmittelbar
nach den Julitagen und dann wieder seit 1840 die
Revolution in dem Felleisen wandernder Gesellen von
Ort zu Ort getragen und in
Kreise geleitet, in denen nicht ein
Revolutionsapostel mit Glacehandschuhen, sondern
nur der Geselle wirksame Mission für den
Umsturz zu treiben vermag. Stolz auf seine Erfolge
konnte Weitling 1843 schreiben: <Unsere
Bärte werden nicht grau werden in der alten
Organisation der Gesellschaft; übers Jahr, so
um die Zeit, wo der Kuckuck singt, können wir
40.000 Mann sein und aufstehen und wandeln, ohne
daß es jemand merkt. < Heute sind nicht
nur diese stolzen Träume, sondern die
politischen Träume überhaupt in den
Kreisen der Gesellen vorläufig
ausgeträumt; eigentliche politische Ziele
stehen ihnen jetzt wohl nicht vor der Seele, und
weder Ständeversammlungen, noch Republik, noch
deutsche Einheit in demokratischer Form
beschäftigt ihre Phantasie; selten nur
möchte auf den Herbergen auch nur das Wort
Republik genannt werden. (...) Solche Worte werden
heute nicht mehr gesprochen und in Deutschland
unter Gesellen auch wohl nicht mehr deutlich
gedacht; der rohe Rausch, die
brutalen Phantasien sind
verflogen; aber die Prosa
der Not, ein hoffnungsloser Blick
der Unvermögenden in die Zukunft und ein
dumpfer Ingrimm über die Aussichtslosigkeit
der Arbeit und über den zweifellosen Erfolg
des Kapitals ist geblieben. Diese Stimmung,
die in den mannigfachsten
Abstufungen und Gestaltungen
die etwas älteren Gesellen fast
ohne Ausnahme durchzieht, ist heute nicht mehr,
aber auch nicht weniger gefährlich
wie eine Pulvertonne in feuerlosem Hause; ein Blitz
vom Himmel kann sie entzünden, aber auch ein
Funke von einer ungedeckelten Tabakspfeife.
Hand in Hand mit der
politischen war namentlich seit 1840 die
religiöse Verwilderung gegangen; (...)
Es kann keinem Zweifel
unterliegen, daß das Wandern in seiner
heutigen Entartung nicht nur ein sittenloses und
revolutionäres, sondern auch ein gottloses
Handwerksgeschlecht in Deutschland
großziehen hilft; aber sollen deshalb
die deutschen Obrigkeiten es in Beziehung auf das
Wandern machen, wie der Klerus in Tirol, der den
Greueln gegenüber, welche sich mit Gesang und
Tanz verbunden hatten, in seiner Verzweiflung kein
anderes Mittel wußte, als Tanz und Gesang
überall und allgemein zu unterdrücken?
(...) Das Wandern wird Handwerksbrauch und
Notwendigkeit in Deutschland auch künftig
bleiben, und die Aufgabe unserer Zeit wird sein,
ihm den Stachel des Bösen zu nehmen (...)
Aus: Clemens Theodor Perthes,
Die Lage der Wandergesellen, in: C.Th.P.: Das
Herbergeswesen der Handwerksgesellen, Gotha 1883, S. 18-34.
Voyageurs = Handlungsreisender.
Renz = Zirkusunternehmen.
Wollschläger =
Zirkusunternehmen.
Menagerieen und Dioramen = zur
Schaustellung benutztes Gemälde auf
durchsichtigem Stoff, das durch Beleuchtung
wechselnde Lichttöne (Töne und Nacht) und
sich bewegende Figuren zeigt.
Wilhelm Weitling (1808-1871)
war Schneidergeselle, Theoretiker und Agitator
für einen Handwerksburschensozialismus>;
wirkte im Vormärz unter den deutschen Gesellen
in Paris und in der Schweiz und spielte bei
der 48er-Revolution eine aktive Rolle.