Der Todwunde
und seine Mutter
1. Leise tönt die Abendglocke,
die Natur senkt sich zur Ruh,
Vöglein singen Abschiedslieder,
Sonne sank dem Westen zu.
2. Fern in Frankreich steht ein Kloster
Auf dem Berge St. Anton,
Auf dem Schlachtfeld gegenüber
Lag verwund’t ein deutscher Sohn.
3. In dem Saale drinnen weilte
Eine Nonn’ im schwarzen Kleid,
Sorgte für die kranken Krieger
Und für ihre Ruhezeit.
4. An die Türe klopft es leise,
Tritt herein ein Mütterlein:
„Gelt, mein Sohn liegt hier verwundet,
Möchte seine Pflegerin sein.“
5. Und die Nonne sprach ganz leise:
„Euer Sohn der lebt nicht mehr,
Eben jetzt ist er gestorben,
Seine Wunden waren schwer.
6. Die Beine war’n ihm abgeschossen,
Und dazu die rechte Hand,
Tapfer hat er mitgefochten
Für das deutsche Vaterland.“
7. An die Bahre trat die Mutter,
Hob das Leichentuch herab.
Einen Schrei – und sie sank nieder!
Gräber, grab’ für zwei ein Grab!
Aus: Johannes Künzig, Lieder der badischen
Soldaten, Leipzig 1927
Leise klingt
das Abendglöcklein
1. Leise klingt das Abendglöcklein,
Die Natur senkt sich zur Ruh’,
Vöglein singen schöne Lieder,
Sonne sank gen Westen zu.
2. Durch das Klostern wandelt leise
eine Nonne in schwarzer Tracht.
Betet für den armen Krieger,
Der verwundet in deer Schlacht.
3. Beide Beine abgeschossen
Und dazu der rechte Arm,
Eben hat er ausgelitten,
Für sein Vaterland so arm.
4. Und die Nonne tritt ans Bett,
Drückt ihm beide Augen zu.
Und mit einem weißen Tuche
Deckt sie den Verstorbenen zu.
5. Horch, was klopfet an der Pforte?
Ein alt’ Mütterlein tritt ein.
Spricht: Liegt hier mein Sohn verwundet?,
Möchte gern’ ihm Pflegerin sein.
6. Liebes Müterlein, sprach die Nonne,
Euer Sohn, der lebt nicht mehr,
Eben hat er ausgelitten,
Seine Leiden waren schwer.
7. Und die Mutter trat zum Bette,
Hob das Leichentuch herab.
Einen Schrei, dann sank sie nieder,
Gräber schaufelten für zwei ein Grab.
Reinhard Olt, Krieg und Sprache. Untersuchungen zu
deutschen Soldatenliedern des Ersten Weltkriegs, Gießen 1980
Geschichte / Kommentar:
Diese traurige Ballade stammt aus dem
deutsch-französichen Krieg von 1870/71 und beginnt manchmal auch:
„Fern in Frankreich steht ein Kloster.“ Für den Gesang
des Liedes gibt es für die Zeit des Ersten Weltkriegs eine Reihe
von Nachweisen. Am häufigsten ist die Strophe „Fern in
Frankreich“ weggelassen worden. Die weiteren Variationen sind
geringfügig. Am meisten weichen die Versionen von Ott und
Künzig ab.
Quelle:
Artur Kutscher, Das richtige Soldatenlied. Berlin
1917, S. 86f.
Johannes Künzig, Lieder der badischen
Soldaten, Leipzig 1927 (Ausgabe A+B), Nr. 105, S. 151f. + S. 205.
Ströter und Seifert, Wie eine Quelle.
Volkslieder zur Laute, M. Gladbach 1924, Nr. 30, S. 58.
Reinhard Olt, Krieg und Sprache. Untersuchungen zu
deutschen Soldatenliedern des Ersten Weltkriegs, Gießen 1980, Bd.
2. S. 127, Nr. 226.