Volksgesang
1. Eine feste Burg ist unser Bund,
durch eig’ne Kraft geschaffen;
er wurzelt fest auf Felsengrund,
im Sturm ein sich’rer Hafen.
Ob auch die Woge braust,
d’rob keinem von uns graust:
hoch, hoch das Schlachtpanier!
darunter kämpfen wir
Für uns’re Menschenrechte
2. Man hat uns lang genug genärrt,
gebüttelt und geschunden;
uns listig auseinand’ gezerrt,
die Hände uns gebunden;
Jetzt unser Feldgeschrei:
„Gebt uns das Stimmrecht frei!“
Nicht Sklaven mehr und Herr’n,
den Himmel in der Fern’, -
Wir woll’n ihn hier auf Erden!
3. Mit unserm Schweiße düngen wir
Jahr aus, Jahr ein die Saaten;
wir schaffen all’ der Städte Zier
mit Hammer, Axt und Spaten
Und sollten müssig sehn,
wie wir zu Grunde geh’n!
Wie wir sammt Weib und Kind
Nackt und bedürftig sind!
Nein, es muß anders werden!
4. D’rum lod’re hell auf unser Muth!
Gilt’s auch ein kühnes Wagen;
Fluch Jedem, der da feige ruht
und kleinlich wollte zagen!
Wir All’ die feste Burg.
Ein Ganzes durch und durch,
dann strahlet durch die Nacht
uns bald in voller Pracht
Der hohe Tag des Sieges!
5. Glück auf, du glühend Morgenroth,
nach geistigem Erwachen!
Heraus, heraus, du blasse Noth.
Du finst’rer Elendsdrachen
Du hast uns fest vereint,
sonst unser ärgster Feind.
Jetzt unser Streitgenoß’,
auf in der Feine Troß –
Durch Kampf zum ew’gen Frieden!
Geschichte / Kommentar:
Die Kontrafaktur auf Luthers „Ein feste
Burg“ (1528 in Anlehnung an Psalm 46) schrieb Jacob Audorf jun.
1865. Er übernimmt zwar die Melodie, bezieht aber die Matapher der
Burg statt auf „Gott“ auf den „Bund“, womit er
den zwei Jahre zuvor gegründeten „Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein“ (ADAV) meint. Als Lassalle-Verehrer schrieb
Audorf es auf den charismatischen Arbeiterführer und gliederte
sich nicht nur damit in die Reihe von Lieder, die dem Personenkult
erlegen waren.
Das Lied wurde in die meißten
Arbeiterliederbücher des 19. Jahrhunderts übernommen,
allerdings mit einigen Änderungen. Während die Frage ob
„Simmrecht“ oder „Wahlrecht“ unterschiedlich
beantwortet wurde, sind sich alle einig: kein Personenkultur um
Lassalle (warum auch immer), das führte zu folgenden
Änderungen:
1/2: wie ihn Lassall’ geschaffen, / durch eig’ne Kraft geschaffen;
2/7: Gebt uns das Wahlrecht freit! / „Gebt uns das Stimmrecht frei!“
4/2: vom Geist Lassall’s getragen, Gilt’s auch
ein kühnes Wagen;
5/7: jetzt unser Bund’sgenoß, / Jetzt unser Streitgenoß’,
Quellen:
Liederbücher der Arbeiterbewegung im 19. Jh.
Gustaf Linke, Zeitgem. Volkslieder, Dresden 1872,
Nr. 5, S. 9.
Sozialdemokratisches Liederbuch. 8.
veränderte Aufl., Zürich, Verlag der Volks-Buchhandlung,
1885, Nr. 12,
Sozialdemokratisches Liederbuch. Sammlung
revolutionärer Gesänge, 12. Auflage, German Printing and
Publishing Co., London 1889, Nr. 12, S. 19f.
Max Kegel’s Sozialdemokratisches Liederbuch,
(3. Aufl.) Stuttgart 1891, Nr. 6;
Arbeiter-Liederbuch. Eine Sammlung
sozialdemokratischer Lieder und Deklamationen, 21. Auflage. New-York
1894,Nr. 51,
Max Kegel’s Sozialdemokr. Ldb, (8. Aufl.),
Stuttgart, 1897, Nr. 8,
Hermann Schlüter, Sozialistisches
Arbeiter-Ldb, Chicago, o. J. (ca. 1906), Nr. 29, S. 48f.