Freies Quartier
1. Ein Ruf von Land zu Lande hallt
das hört der deutsche Staatsanwalt,
der sieht den Staat gar sehr bedrängt,
weshalb er schnell auf Rettung denkt:
dann tritt der Polizist herfür:
Es knarrt vergnügt die Kerkerthür:
entweder schweigen, oder – freies Quartier!
2. Durch Hunderttausend zuckt es schnell,
denn jeder Muckser ist „Rebell“;
ganz Deutschland wird dann petrolirt –
der Staatsanwalt wird allarmirt:
dann tritt der Polizist herfür:
Es knarrt vergnügt die Kerkerthür:
entweder schweigen, oder – freies Quartier!
3. Ein einz’ges Jahr, das wär zu mild
für den Verbrecher graus und wild,
wenn er zwei Jahr im Kerker ruht
weiß er, wie deutsche Freiheit thut.
Der Polizist sorgt dann dafür
Es knarrt vergnügt die Kerkerthür:
entweder schweigen, oder – freies Quartier!
4. Der Reichstag hat es auch gemeint,
man sei zu milde, wie es scheint,
man strafe nur nach „Minimum“
das unzufried’ne Publikum:
Zu selten sorge man dafür,
daß lustig knarrt die Kerkerthür:
entweder schweigen, oder – freies Quartier!
5. Wie nach dem Blitz der Donner rollt,
so schnell die Straf folgen sollt!
Für jeden Sozialistenton,
der kaum den Lippen ist entfloh’n.
Dann tritt der Polizist herfür:
Es knarrt vergnügt die Kerkerthür:
entweder schweigen, oder – freies Quartier!
6. Der schönste Schmuck des Reiches doch
ist ein recht großes Kerkerloch,
darin wird Alles eingesteckt,
was Deutschland aus dem Schlafe weckt.
Der Polizist sorgt dann darfür:
daß immer knarrt die Kerkerthür:
entweder schweigen, oder – freies Quartier!
Geschichte / Kommentar:
Das Lied eines unbekannten Autors befindet sich
– verständlicher Weise – hauptsächtlich in den
Liederbücher der Migranten, in Zürich, London und Chicago.
Quellen:
Liederbücher der Arbeiterbewegung im 19. Jh.
Sozialdemokratisches Liederbuch. 8.
veränderte Aufl., Zürich, Verlag der Volks-Buchhandlung,
1885, Nr. 46;
Sozialdemokratisches Liederbuch. Sammlung
revolutionärer Gesänge, 12. Auflage, German Printing and
Publishing Co., London 1889, Nr. 51;
Hermann Schlüter, Sozialistisches
Arbeiter-Ldb, Chicago, o. J. (ca. 1906), Nr. 64;