Wanderschaft
1. Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen
aus:
da bleibe, wer Lust hat, mit Sogen zu Haus!
Wie die Wolken dort wandern am himmlischen Zelt,
so steht auch mir der Sinn in die weite, weite
Welt.
2. Herr Vater, Frau Mutter, daß Gott euch
behüt’!
Wer weiß, wo in der Ferne mein Glück
mir noch blüht;
Es giebt so manche Straße, da nimmer ich
marschirt.
Es giebt so manchen Wein, den ich nimmer noch
probirt.
3. Frisch auf drum, frisch auf drum im hellen
Sonnenstrahl,
Wohl über die Berge, wohl durch das tiefe
Thal!
Die Quellen erklingen, die Bäume rauschen
all’;
Mein Herz ist wie ’ne Lerche und stimmet ein
mit Schall.
4. Und Abends im Städtchen, da kehr’
ich durstig ein:
„Herr Wirth, mein Herr Wirth, ein Kanne
blanken Wein!
Ergreife die Fiedel, du lust’ger, Spielmann
du!
Von meinem Schatz das Liedel, das singe ich
dazu.“
5. Und find’ ich keine Herberg’, so
lieg ich zu Nacht
Wohl unterm blauem Himmel: die Sterne halten
Wacht;
Im Winde die Linde, die rauscht mich ein gemach,
Es küsset in der Frühe des Morgenroth
mich wach.
6. O Wandern, o Wandern, du freie Burschenlust!
Da wehet Gottes Odem so frisch in der Brust;
Da singet und jauchzet das Herz zum Himmelszelt:
Wie bist du doch so schön, o du weite, weite
Welt!
Parodie, ca. 1928
Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus;
da reißt ein jedes Kind wohl aus seiner
Schule aus.
Der Lehrer verzweifelt, er denkt in seiner Not:
Da ist nicht dran zu machen, der Erste Mai ist
rot.
Geschichte / Kommentar:
Mel. W. Lyra, 1843.
Das Gedicht schrieb Emanuel Geibel 1835 in seiner
Studienzeit in Bonn. Vollendet hat er es nach seinen eigenen Worten
1841 in Lübeck in seinen „Neuen Gedichten“, Stuttgart
1858 (S. 146):
„Ich fang’s vor manchem Jahr berauscht
vom Mainenscheine,
Da ich gleich jenen war Student zu Bonn am
Rheine.“
Franz Magnus Böhme schreib dazu:
„Gedruckt zuerst im ‘Berliner
Taschenbuch’ von H. Klettke 1843. – Die Melodie von Lyra
steht zuerst in ‘Deutsche Lieder nebst ihren Melodien’.
Leipzig 1843. Sie wurde lange Zeit ohne Namen mit der Bezeichnung
‘Volksweise’ vielfach nachgedruckt (seit 1844 bei Silcher,
1848 bei Schanz und Parucker, noch von Erk in seiner
‘Germania’ 1868 und ‘Liedertafel’ 1882), bis in
neuester Zeit durch M. Friedländer (s. dessen Commerbuch 1892, Nr.
33 Notiz) der Komponist bekannt wurde. In Hoffmann’s
Volksgesangbuch 1848 hat Erk sie als ‘Volksweise’ dem Liede
Freiligraths: ‘Mein Herz ist im Hochland’ angepasst.“
Worte: anonym
Mit dieser Parodie gehen im Jahre 1928 Mitglieder
des Jung-Spartakus-Bundes in einigen Berliner Schulen ihren Lehrern zu
verstehen, daß sie nicht gewillt seien, am 1. Mai die Schule zu
besuchen. Die als Sprechchor dargebotene Forderung verfehlt ihr Wirkung
nicht, und die Kinder erhielten schulfrei. Auch später noch wurde
dieser Vers von Berliner Kindern auf den Straßen gesungen.
Quellen:
Franz Magnus Böhme, Volksthümliche
Lieder der Deutschen im 18. und 19. Jahrhundert., Leipzig 1895, Nr.
512, S. 384f.
Inge Lammel, Lieder zum Ersten Mai. Das Lied
– Im Kampf geboren Heft 3, Leipzig 1959. Nr. 14, S. 38