Orientkunden
Eine „besondere
Art“ von Kunden sind die
„Orientkunden“. Hans Ostwald widmete
ihnen ein kleines extra Kapitel in seinen
„Liedern aus dem Rinnstein“ (Bd. 2).
Bei dieser mythenumwobenen Spezies handelt es sich
um „Wanderbettler, die zur Saison nach
Ägypten tippeln, später nach
Palästina, nach der Türkei walzen und
dort auf alle mögliche Art und Weise sich
durchbringen. Der eine kocht Gras aus und verkauft
den Extrakt als Medizin für alle Menschen- und
Pferdekrankheiten an die dummen Bauern; der andere
wechselt fortwährend sein Glaubensbekenntnis
und lebt von den Geschenken, die er dabei
erhält; und die übrigen wissen auch
durchzukommen.“ (Ostwald 1906, S. 62)
Peter Roland,
frühverstorbene Folklorist, machte es 1954
seinen „berühmten“ Vorgängern
nach: „Ein Jahr lang. Und dieses Jahr
benutzte ich, durch den Orient zu
„walzen“, das heißt zu tippeln,
reiten, trampen, schippern oder auch als
„Blinder“ auf Zugdächern
herumzuturnen. Einiges Geld hatte ich noch zu Hause
zusammengekratzt, anderes suchte ich als
Wärter amerikanischer Babys in Ankara, als
Fotograf, Kneipenmusikant und
Aspirintablettenverteiler während der
„Reise“ dazuzuverdienen. Das
glückte nicht immer. Ohne die großartige
„Kameradie der Landstraße“
wäre mir da manchmal nichts anderes
übriggeblieben, als beim Herrn Konsul die
Fahrkarte heim in die Bundesrepublik zu besorgen.
Hunger und die Gefahr des „Kittchens“
waren beim illegalen Grenzübertritt nach El
Kuweit allgegenwärtig, und schließlich
endete diese Episode auch wie befürchtet in
einem Wüstenfort inmitten einer Schar
zerlumpter, kettengefesselter Vagabunden, Gaukler
und sonstiger Missetäter.
Wenn ich heute, in den
„Landstreicherballaden“ vom
„Kubub“, von „linken
Trittchen“ und vom
„Verschüttgehen“ singe, dann sind
dies Beschwörungen einer „Reise“,
die 50 Jahre nach der Hochblüte der alten
„Kunden“ und „Orientkunden“
mir eine ihrer Wanderrouten vertraut werden
ließ.“
Der Mythos der die
Orientkunden - besser gesagt: den Orient - umgab,
spiegelt sich auch in einem Erlebnis von Ferdinand
Hanusch wider, das dieser zu Beginn des 20. Jhs -
eben die erwähnten 50 Jahre vorher - hatte.
Ein älterer Kunde mit einem
fünfjährigen Jungen wollte nach Jerusalem
um sich von dort einen Bettelbrief zu holen,
„mit dem ich in ganz Europa offene Türen
und gebende Hände finde“. (Hanusch 1907,
S. 88)
Das die Wirklichkeit eine
andere war, zeigen die Personenbeschreibungen, die
Ostwald der Nachwelt dokumentierte. Außer dem
Schnapskapitän, Franzosenmichel, den Ungarn
Asterlock und J. Heinrich, dem Böhmen Columbus
(Fr. Prochaska), der Hamburgerin Spitzenrieke
(Friederike Neels), Bayernkarl, Schani, Wilh. Job
aus Altenkassel, den Schlesiern Färber Karl
(K. Laehs) und Robert der Teufel (R. Schoof),
Franzosenwol (J. Wolf), Krachheinrich und
Brillenkarl, sollen diejenigen an dieser Stelle
erwähnt werden, deren Kurzbiographie
besonderes wiedergibt.
Feldmann nennt sich Doktor,
handelt mit Zahnlack, den er auf den Etiketten als
„das Wachstum der Zähne
stärkend“ hervorhebt. Er besteht aus
Zuckerwasser und ist mit Fuchsin rot gefärbt.
1. Frc. die Flasche von 50 Gramm“ Feldmann
ist ein Sachse, Deserteur, im Besitz mangelhafter
Papiere, Hochstapler und Schwindler, reist als
Emigrant, Botaniker, Doktor usw., etwa 36 Jahre,
untersetzt Vollbart, graue Augen.
Sedlaczek ist, abgesehen son
seinem Samenhandel, harmlos. Fechtet seit 17 Jahren
im Orient. Böhme, ehemaliger Zollbeamter in
Triest, 47 Jahre, groß, hager, fast
weiße Haare, wasserblaue Augen, rote Nase,
Schnurrbart. Selte nüchtern. Spricht Deutsch
und slavische Sprachen, Griechisch,
Französisch, Italienisch und Türkisch.
Rosieczka, „Doctor
med“, kocht diverse obscure Kräuter aus
und füllt den Absud in kleine Flaschen, dieses
Universalmittel verordnet er gegen Zahnweh,
Bauchweh, Kopfweh, Fieber innerlich, gegen
Rheumatismus und Rotzkrankheit der Pferde zum
Einreiben. Er hat keine gedruckten Etiketten,
sondern klebt geschrieben eZettel in seiner
böhmischen Orthographie auf die Flaschen.
Anbei eine Probe: „Diese Maduzin ist sir
schlechdes Pauchwe fir Zahnwe wernherr als
Aptrittmittel und kofded i frang. Dogter
Risecka.“ Er ist geborener Böhme, aus
Prag, dalft und handelt. Seine Tochter ist mit
einem Levantiner Namens Apperi in Damaskus
verheiratet, weshalb er sich häufig in dieser
Stadt aufhält. Untersetzt, grauer Schnurrbart
und Haare, spricht nur Böhmisch und Deutsch.
Alter ca. 50 Jahre. Harmlos“
Flamingo, ein Steirer (H.
Ogris), fechtet seit ca. 7 Jahren im Orient. Ehem.
Kaufmann, gute Handschrift. Groß, hager,
sommersprossig, rote Haare und Schnurrbart.
Schwankender Gang, meistens im Bruch, spricht nur
Deutsch mit österr. Diealekt. Wird grob, wenn
er nichts bekommt.
Der Ochsenmichel (Michael
Müncht), geb. am 26. 8. 1870 in annweiler,
Bayern. Arbeitet von Zeit zu Zeit. Wurde
inJerusalem orthodox, erhielt dafür 10 Rubel
und eienn alten Überzieher. Ist sieben Jahre
im Orient, geistig etwas beschränkt, sonst
aber harmlos. Mittelgroß, ohne Bart, graue
Augen. Spricht nur Deutsch und das nicht einmal
richtig.
Schmoraugust (August
Hinteler), Schlesier, aus Trebnitz. Sattler. selten
nüchtern. Dalft, arbeitet selten. Schnurr- und
Knebelbart, wackelnder Gang, graue Augen, 34 Jahre
alt. Wird grob, wenn er nicht bekommt. Spricht nur
Deutsch.
Wenzel, ein Böhme. Selten
nüchter, ca. 35 Jahre. Vollbart und Haare
blond. Abgebrochene schüchterne Sprache.
Groß. Wird grob, wenn er nicht nüchtern
ist und wollte einma bei einer Gelegenheit, als er
beim Schmalmachen (1) nichts bekam, den Mann
verhaften lassen (in Jaffa).
Pedelinfritze, 66 Jahr alt,
bartlos, ein an Erfindungen reicher Kopf, meistens
besser gekleidet. Spricht Französisch,
Italienisch und etwas Arabisch.
Bienentheodor: so genannt,
weil er immer „verbient“ (2) ist, geht
im Bruch. Zoppkunde (3), 50 Jahre alt, graue Haare,
Sachse. Name unbekannt. Reist mit Zappelpaula, und
haben beide keine Fleppen (4). Beide selten
nüchtern.
Zappelpaula (Paula Petersen),
29 Jahre, rote Nase, schlecht gekleidet.
Die russische Prinzessin,
heruntergekommenes Glied des Huases Dolgoruki,
verheiratete sich mit dem Franzosen Vermin, einem
Beamten der „Messagerie maritime“,
wurde von der Familie verstoßen, entlief
ihrem Mann und ist jetzt
„Kundenkönigin“. Aristokratische
Erscheinung, interessantes Gesicht. Bedeutende
Bildung. Gut gekleidet. Spricht sieben Sprachen.
Selten ganz nüchtern.
Religionsblum: Die
Religionskunden, welche meistens in Jerusalem zu
irgend einer andere Kirche übertreten ihr so
lange treu bleiben, als für ihren Unterhalt
gesorgt wird. Hört dieses auf, wird die
Religion wie ein Kleid wieder gewechselt. So hat es
auch Religionsblum gemacht, der Moslem wurde,
nachher Protestant, dann zur orthodoxen Kirche
übertrat, als auch diese nicht mehr abladen
wollte, wurde er römisch-katholich und
trägt sich mit der Idee, eine neue Religion,
ähnlich der der Heilsarmee, zu erfinden. Und
hat anarchistische Pläne und Umsturzideen. Er
ist 34 Jahre alt. Ungarischer Jugde. Hagere
Gestalt. Schwarze Augen, Habichtsnase, grauen
Schnurrbart und Haare. Arbeitet zur Zeit. Trinkt
viel, aber heimlich und zu Hause.
Feodor Wolf Apolomavicz
(Sochaczky), Pole, wurde mit Ochsenmichel und einem
Dritten (Deutschböhmen Emil Sauermann)
orthodox zu Jerusalem und fischte später mit
einem Sachsen Namens Poser am Jordan. Schielt
stark, etwa 33 Jahr ealt, wackelnder Gang. Spricht
Polnisch, Russisch, Türkisch, etwas Arabisch
und Deutsch.
Hartmann und Kronentrag
(Botaniker und Samenhändler.
Drahtfranz (Fr. Tümmler),
Zoppkunde, handelt mit Drahtwaren. Sachse.
Ehemaliger Legionär. 38 Jahre alt.
Gegenwärtig verschollen seit Anfang 1897.
Bruchwittner (Wittner),
Religionskunde, hat schon 7mal die Religion
gewechselt. Jude aus Czernowitz. Schwindler.
Schlecht gekleidet, lange Haare, struppigen
Schnurr- und Vollbart, undeutliche Sprache.
Schlechte Zähene, fast nie nüchtern.
Zeiß, verbummelter
Maler, stottert, groß, blonden Schnurrbart.
Hat in Haifa als Andenken in einer deutschen
Familie ein uneheliches Kind hinterlassen, ohne das
verführte Mädchen zu heiraten. Ehrloser
Kerl.