18. Fest-Lied.
Melodie: Deutschland, Deutschland etc.
1. In verhängnißschwere Tage
hat das Schicksal uns gestellt;
Wieder steht an einem großen,
ernsten Wendepunkt die Welt.
Aus sich selbst sie zu verjüngen
ringen sich aus ihrem Schoos
neue ungeahnte Formen
unter herben Wehen los.
2. Jeder Riß, der in den Geistern
zwischen sonst und heute klafft –
immer tiefer, immer breiter
wird er durch die Wissenschaft,
die mit allem Ueberlebten
Muth’g und entschieden bricht
und die Nebel alter Träume
scheucht mit ihrer Sonne Licht.
3. Bis zum Grund, in allen Fugen
hat des Alten Bau gebebt,
seit den tief gebeugten Nacken
und das bleiche Haupt erhebt,
Seit – ein Simson – an die Säulen
wie zum Spiele legt die Hand
Jener junge finstre Riese –
der erwachte vierte Stand.
4. Nicht die Schleppe derer tragen,
die in Glanz und Ehren stehn –
ruhig seine eignen Pfade
will er für die Zukunft gehen,
und er fordert nur das Eine:
Fürder weder Herr noch Knecht,
Freie öffne Bahn für Alle,
und für Alle gleiches Recht!
5. In den Hader der Parteien,
die der Glaube schroff entzweit,
wirft er stolz den Ruf vom Wissen,
das allein den Geist befreit,
und dem blinden Haß der Völker
und der Schlachten blut’gem Ruhm
stellt er leuchtend gegenüber
echtes schönes Menschenthum
6. Staunend und geblendet steht er
vor des Wissens reichem Hort,
und verzaubert und ergriffen
Lauscht er auf der Dichter Wort;
doch ein schmerzliches Erbarmen
fasst ihn hart und eisern an,
daß er nichts von all den Schätzen
Denen vor ihm geben kann.
7. Was wir mühsam nur errungen,
denen nach uns sei es leicht;
keinem, der da hungert, werde
mehr ein Stein für Brod gereicht.
Nicht ein Wahn ist solches Streben,
nicht ein Traum, der uns bethört,
Nein! ein Ringen, dem die Zukunft
- Allem Hohn zum Trotz – gehört!
Geschichte / Kommentar:
Das Lied eines unbekannten Autors ist - vermutlich
wegen der Sozialistengesetze - unseren Unter-lagen zufolge zuerst 1889
in London in das „Sozialdemokratische Liederbuch"
aufgenommen wor-den. In den 1890er Jahren taucht es dann auch in Kegels
Liederbüchern auf.
Als Melodie war angegeben „Deutschland,
Deutschland"
und da wiederum die „Österreichische
Na-tionalhymne" oder „Gott erhalte Franz den Kaiser",
gemeint war natürlich das Andante aus Haydns Kaiserquartett (op.
76 Nr. 3).
Quelle:
Sozialdemokratisches Liederbuch, London (12.
Aufl.), 1889, Nr. 18, S. 29.
Max Kegel’s Sozialdemokratisches Liederbuch,
Stuttgart , 1891, S. 60.
Max Kegel’s Sozialdemokratisches Liederbuch,
Stuttgart , 1897(8), S. 60.