Agitprop (2)
 
(Der letzte Satz von Hoffmann deutet wieder auf eine Parteiinterne Auseinandersetzung hin, um die wir uns später kümmern werden.)

Nach dem Auftritt der Moskauer „Blauen Blusen“ begannen sieben Mitglieder der Proletarischen Bühne Hamburg, sich unter der Leitung des Lehrers Hans KäbnickDie Nieter zu  nennen (vermutlich: Heinrich und Lene Liebers, C. Bernitt, Erna Hähn, H. Käbnick, Franz und Karl Winzentsen.). Die Mitgliederzahl erhöhte sich im kurzer Zeit Anfang 1928 waren es bereits die folgenden 16 Personen3

Heinrich Liebers* (geb. 1892 Glasmaler / Schauspieler), Lene Liebers* (geb. 1894 Putzmacherin), Hans Käbnick (geb. 1904 Volksschullehrer), Heinz Augustin* (geb. 1904 Angestellter / Klavierspieler), Erna Höhn (geb. 1906 Stenotypistin), Maria Tennemann (geb. 1900 Hausfrau), Otto Gittersonke (geb. 1900 Ewerführer), Seppl Winzentsen* (geb. 1902 Malergeselle), Franz Wintzentsen* (geb. 1901 Angestellter), Karl Winzentsen* (geb. 1901 Versicherungsangestellter), Carolus Bernitt* (geb. 1903 Angestellter / Geschäftsführer), Walter Saladin (geb. 1900 Angestellter / Kassierer), Herbert Seibt (geb. 1905 Handwerker), Hermann Kunze* (geb. 1907 Maler), Werner Kunze* (geb. 1907 Maler), Otto Gröllmann* (geb. 1902 Bühnenbildner / Dekorationen).

ab 1930 kamen dazu (neben den oben mit Stern* gekennzeichneten):
Kati Kunze (geb. Klug, geb. 1907 Stenytypistin), Adolf Mehr (geb. 1901 Tischer), Hermann Stelling (geb. 1907 Maschinenbauer), Elli Gruß (geb. 1910 Schneiderin).

Die Truppenkleidung bestand aus blauen Leinenhosen und blau-weiß gestreiften Schauermannskitteln. Schon die Kleidung sollte die Verbundenheit der Spieler mit dem Hamburger Proletariat signalisieren.

Am 12. April 1928 lobt Durus (das ist der aus Ungarn stammende Kunstkritiker, für die „Rote Fahne“ schreibende Alfréd Kemény) die Hamburger „Nieter“. Sie seien „klassenbewußte Proleten – jung, frisch, hart, schwer, scharf in ihrer Satire, unerbittlich im Klassenhaß und unerbittlich in ihren revolutionären Folgerungen“. In kurzer Zeit gelänge es ihnen, den ganzen Zuschauerraum in ihre Gewalt zu bringen.

„Knappe, schlagkräftige politisch-satirische Szenen lösen sich ab, „Schule und Kirche“, ‚Faschismus’, ‚Achtstundentag’, ‚Paragraph 218’, ‚proletarische Presse’: ein kleines politisches Kompendium, von einer unerhörten Lebendigkeit, mit einem beispiellosen Reichtum an politischen und szenischen Einfällen. Diese Hamburger Gruppe übertrifft selbst die vortrefflichen Berliner ‚Roten Raketen’, was die Schärfe der Satire, das wirbelnde Tempo und das Aufrüttelnde und Lachsalven Auslösende der einzelnen Schlager anbelangt.“

Das sei „praktisch proletarische Bühnenkollektivität“.

„Ideologische und schauspielerische Gleichwertigkeit der Spieler; hundertprozentiges proletarisches Ensemblespiel; kein einziger der Mitwirkenden hebt sich unbegründet individuell hervor. Eine schauspielerische Durchtrainiertheit, ein Können, das an die Leistungen der russischen „Blauen Blusen“ beinahe heranreicht. Nur ist diese Gruppe weniger spielerisch, schwerer und satirisch schärfer, wie die Schauspielergruppe, das rote Kabarett eines unterjochten, noch nicht befreiten Proletariats eben sein muß.“

Die Darbietungen der Gruppe seien „so politisch wie szenisch ganz und gar von den Bedingungen des Klassenkampfes in Deutschland abhängig; die Bodenständigkeit der Gruppe ist groß.“ Stark seien besonders „die Anklänge an George Grosz“. Und überhaupt verbänden die „Nieter“ die „größte politische Schärfe mit der größten bildmäßigen Anschaulichkeit in der Darstellung, um sich – die aus ihren Darbietungen folgende politische Erkenntnis – so tief wie nur möglich dem Gedächtnis des Hörers und Zuschauers einzuprägen.“ Als besonders starke Szenen hob Durus hervor „‚Politische Verkehrspolizei’, ‚Koalitionsauto’, ‚Tod und Auferstehung des Achtstundentages’, ‚Faschismus’, ‚Coué’.“ Als „Salonnummer“ bezeichnet er die Nummer des einzigen weiblichen Mitglieds „Frau und Presse“. Sie sei „so treffend und von einer so elementaren Komik (es handelt sich um die Hamburger ‚Mottenpost’) wie man es innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung auch nur annähernd noch kaum sah.“ Abschließend heißt es: „Die Berliner Proletarier werden Gelegenheit haben, diese vorzügliche Gruppe, Blut aus ihrem Blute,  kennenzulernen.“

Die Einschätzung der Ordnungskräfte war anfänglich unterschiedlich. Während die Polizeibehörde Hamburg im März 1928 der Polizei in Wesselburen eine „einwandfreie“ Auskunft über die Gruppe erteilte, empfahl letztere „schärfste Überwachung“.4 Als Führer der (20köpfigen) Gruppe, die am 9.3.1928 in Wesselburen spielte, wurde der im Besitz eines Kunstscheines befindliche Landarbeiter Walter Manfred Saladin genannt.5 Ihre „kabarettartig politischen Satiren gegen die heutigen politischen Zustände, Kapitalismus, Schule, Pfaffentum, Abtreibung usw.“ seien „verhetzend zum Vortrag gebracht“ worden, und sogar „die Person des Reichspräsidenten“ soll „heruntergerissen“ worden sein.

Ihr erstes, natürlich „revolutionäres“ Programm stellte die Gruppe im Januar 1928 vor.6 Das zweite Programm folgte vom Oktober 1928 bis zum Januar 1930 und erlebte 122 Aufführungen vor etwa 80.000 Zuschauern.7 Als Themen gab die HVZ an: „‘Der kommende Krieg als Giftgaskrieg’, ‘Die drohende Kriegsgefahr’, ‘Hände weg von Sowjetrußland!’, ‘Der Panzerkreuzerbetrug der SPD-Minister’, ‘Zehn Jahre Hamburger Volkszeitung’, ‘Wohnungselend’, ‘Der Hamburger Hafen erwacht’ usw.8 Ab Januar 1930 folgt das 3. Programm, diesmal mit einem Obertitel: „Gott geht Stempeln“ (HVZ v. 8.1.1930, S.3)

Neben ihren eigenen Veranstaltungen spielten sie für Organisationen im KPD-Umfeld (KPD, KJVD, Rote Jungfront, RFB, Internationale Arbeiterhilfe, Rote Hilfe, Freidenker, Arbeitersportkartell) meistens bei Werbeveranstaltungen, „Versammlungen, Stiftungsfesten, Kundgebungen, Fahnenweihen, Demonstrationen, Kongressen“.9 In der Regel fanden die Aufführungen im Stadtgebiet Hamburgs statt, dehnten sich aber auch „auf den ganzen Bezirk Wasserkante: Harburg, Geesthacht, Elmshorn, Pinneberg, Wesselburen usw.“ aus.

Zum 10. Bundestag des DAThB am 8./9. April 1928 in Berlin stellt Durus in Der Roten Fahne die Hamburger und Berliner Ortsgruppe als die „beiden politisch und szenisch entwickeltsten“ dar.10 Die Darbietung der Nieter am ersten Abend wird von Hoffmann wegen „jener neuartigen Spielweise, die sich außerhalb des Bundes, in den Agitproptruppen entwickelt hatte“, als überraschend für die Delegierten bezeichnet. Die „waren von der Qualität dieser Darbietung stark beeindruckt, was zum Erfolg der Opposition wesentlich beitrug.“11 Der letzte Auftritt der „Nieter“ fand Ende 1932 statt (siehe hierzu Diers, S. 239)

Truppenlied der Hamburger „Nieter“: Das sind die Nieter von Hamburgs Werft;
„Rote Schlager“: Seid Ihr achtzig Jahre, Leute (Sehn Sie, das ist ein Geschäft …);
Einst in Weimar sprach Fritz Ebert („Die Staatsgewalt, jawohl, die geht vom Volks aus!";
Das sind die Proleten vom Nordseestrand (Volldampf voraus!)


Weitere Agitprop-Truppen in Hamburg und Umland (Wasserkante)
Über andere Agitprop-Truppen in Hamburg und dem Bezirk / Gau Wasserkante liegen wenige Informationen vor. Sie hatten entweder keine ausreichende Qualität oder bestanden nur kurze Zeit. Es handelt sich um die folgenden Gruppen:
„Die Proleten“; „Der Rote Ring“ (1929 gegründet); „Die Rote Kolonne“ (KJVD in Hamburg-Eimsbüttel, Leitung Willi Müller);
„Die roten Grandies“ (bei Blohm & Voss); „Rote Barmbeker Agitatoren“; „Kollektiv Junger Schauspieler“

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Anmerkungen
3   Nach: Michael Diers, „Die Bühne betritt der Prolet, Arbeiter und Theater“, in: Vorwärts- und nicht vergessen, Arbeiterkultur in Hamburg um 1930, Ausstellungskatalog, Hamburg 1982, S. 235f.
4  LAS 301-4548, Krb.Nr. I, Hauffe, Wesselburen, Pol.B v. 12.3.1928.
5  LAS 301-4548/7, I.Nr. 2054/28, Pol.B  Hauffe v. 14.4.1928.
6  Hoffmann 1961, „Die Nieter - Hamburg Flugzeug-Nummer / 1928“, S. 257-274.
7  Hoffmann 1961, „Die Nieter - Hamburg Flugzeug-Nummer / 1928“, S. 257-274.
8  Käbnick, ‘Die Nieter’ mit gänzlich neuem Programm Uraufführung am Donnerstag. In: HVZ v.  8.10.1928. Hier nach Hoffmann 1961, S. 269.
9  Ebd.
10  Durus, Bundestag 1928 des Arbeiter-Theater-Bundes, in: Die Rote Fahne v. 13.4.1928, zit. nach Hoffmann 1961, S. 314; vgl. auch Hoffmann 1961, S.298 (Abschnitt: „Der 10. Bundestag des Deutschen Arbeiter-Theater-Bundes 8.-9. April 1928 - Berlin“, S. 289-302).
11 Hoffmann 1961, S. 299.
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