Die Mär vom „gestohlenen“ Liedgut (2)

verbergen sich ein Vorgang oder mehrere Vorgänge, die deutlich komplexer sind. Ich werde hier nicht noch einmal alle Lieder behandeln, da wir das bei jedem einzelnen Lied sowieso machen und Dithmars Behauptungen vielfach wissenschaftlichen Standards nicht standhalten. Allerdings, einen wichtigen Fakt ignoriert oder besser verschweigt Dithmar von vornherein, so sind von den angeführten Liedern, die als wichtigste benannt wurden, ausschließlich Soldatenlieder, überwiegend aus dem Ersten Weltkrieg, die sich bereits Kommunisten angeeignet hatten (sind sie also auch gestohlen?). Soldatenlieder wurden im Ersten Weltkrieg natürlich von allen Frontkämpfern unabhängig von einer Parteizugehörigkeit gesungen. Zur Irreführung werden anfänglich nur die Titel genannt (z. B. „Leunalied“), so dass es den Eindruck erweckt, als seien sie zuerst dagewesen, was natürlich ebenfalls Unsinn ist.

Den Gedanken, dass viele der Lieder ehemalige Soldatenlieder waren, tut Dithmar als „rein formale Gegenüberstellung „linksradikal“ – „rechtsradikal“ und irreführend ab, da es nichts über das jeweilige Herrschaftssystem aussage, es müsse die Tradition, der historisch-politische Kontext, die Intention und die Wirkungsabsicht beachtet werden. Nun unterliegen allerdings alle hier genannten Eigenschaften einer subjektiven Beurteilung und man fragt sich unwillkürlich: Wer hat da die Deutungshoheit? Sie entsprechen keiner wissenschaftlichen Herangehensweise, und sind somit viel „irreführender“. Das Argument stammte aus den 1950er Jahren und wurde von den 68ern kritiklos wieder hervorgeholt. Offensichtliches Ziel war es wohl, die vielen Dummheiten der KPD aus der Kritik zu nehmen, doch, darum geht es gar nicht.

Beide Gruppierungen, Nationalsozialisten und Kommunisten, waren Gegner, ja Feinde der parlamentarischen Demokratie, die von der Weimarer Koalition inklusive Sozialdemokraten institutionalisiert worden war, und dahingehend sehr wohl gleichzusetzen. Beide waren, teilweise als Erben der Kaiserzeit und des Weltkriegs teilweise aufgrund der jeweiligen ideologischen Revolutionspläne extrem militaristisch organisiert und ausgerichtet und auch da gleichzusetzen.

In den Arbeiten der Genannten, doch nicht nur dort, (1) wird ständig mit Begriffen wie „Arbeiter“ und „Arbeiterbewegung“ gearbeitet. Was hier oberflächlich betrachtet selbstverständlich erscheint, offenbart bei näherem Hinsehen eine krasse Schieflage. Der Begriff „Arbeiterbewegung“ wird immer dann benutzt, wenn z. B. Aktionen der KPD in Verbindung mit der SPD unterstellt werden, während der Begriff „KPD“ oder „Roter Frontkämpferbund“ fast überhaupt nicht vorkommt. Hiermit befinden sich die genannten in der Tradition der kommunistischen Agitation der 1920er Jahre.

Doch, was bedeutete denn in jener Phase dieser Begriff „Arbeiterbewegung“? So wird teilweise beschwörend so etwas wie eine Einheit von Sozialdemokraten und Kommunisten unterstellt, die es so gut wie nie gegeben hat. Um diese Tatsache zu kaschieren, wird dann vielleicht noch aus der damaligen KPD-Propaganda versucht, einen Gegensatz zwischen Basis der SPD und ihrer Führung herzustellen. Die Arbeiterbewegung war schon vor dem Ersten Weltkrieg alles andere als eine homogene Gruppierung, denken wir nur an die Auseinandersetzung von Marx und Bakunin. Doch auch die Differenzen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert glichen vielfach eher einem Zerwürfnis, und es hatte vermutlich gar nicht der Auseinandersetzung um die Kriegskredite gebraucht, um ein Zerfallen - oder besser Abspaltungen - der „Arbeiterbewegung“ in Gang zu setzen. Jedenfalls macht der Begriff in einer Zeit, in der die KPD die SPD als sozialfaschistisch beschimpft hatte, absolut keinen Sinn.

Deutlich wichtiger ist es, sich die Zeit von 1918 bis 1933 genauer anzusehen. Was war passiert? Ein politisches, gesellschaftliches und ökonomisches System war auseinander gebrochen und ein neues System wurde gesucht (in Teilen durchaus mit der deutschen Wiedervereinigung zu vergleichen, nur da war das andere System bereits vorhanden). Aber was bedeutete das für die Menschen? Ein Großteil war unentschlossen und wusste nicht, wohin es gehen sollte. Ich kann hier nur für die paramilitärischen Gruppierungen sprechen, mit denen ich mich während meiner Auseinandersetzung mit der Agitationskultur von Roten Frontkämpferbund (RFB) und KPD beschäftigt hatte. Diese Gruppierungen  hatten enormen Zulauf, aber – und jetzt kommt das wichtigste – sie hatten alle auch eine enorm hohe Fluktuation zu beklagen – diese konnte zwischen 50% und 80% liegen. Ein kurzes Beispiel: Bei der Gründung des RFB (1924) wollten ganze Stahlhelmkapellen in den kommunistischen Bund eintreten, was zu großen internen Diskussionen führte. Nach dem Verbot des RFB (1929) liefen viele Rote Frontkämpfer zur SA über. Beispielhaft erwähnt sei der Sturm in Hamburg Altona, der besonders anlässlich des sogenannten „Altonaer Blutsonntag“ von sich reden machte.

Es ist also nicht unerheblich, wie viele – hauptsächlich – Männer mit ihren Liedern hin und her zogen. Das soll natürlich nicht den Blick dafür verstellen, genau zu betrachten welche Gruppierung sich welche propagandistischen Gedanken gemacht hat, denn auch das ist natürlich wichtig.

Zu diesen Wanderungen zwischen den unterschiedlichen politischen Gruppierungen gehört außerdem die Betrachtung, welche Gruppierung wann über eine besondere Agitationskultur verfügte bzw. welche Gruppierung wann verboten war und dementsprechend, wann sich wieder neu formieren musste. Auch hier nur ein kurzes Beispiel: Der RFB wurde 1929 verboten, nachdem die Roten Frontkämpfer in den Jahren 1924-29 nicht nur eine ganze Reihe Liederbücher publiziert hatten, sondern auch (zumindest bis 1927) erfolgreich die Straße in uniformierten Achterreihen, mit Musikkapellen (Trommler und Pfeifer, Blas- und Schalmeienkapellen) die Straße beherrscht, ja teilweise terrorisiert hatten. Die SA begann dagegen ihre nach außen gerichtete Agitation erst zum Ende der 1920er Jahre und ihr erstes Liederbuch erschien im Jahr 1929. Es liegt also in der Natur der Sache, dass der Adaptionsprozess häufig einseitig war und zwar von den zeitlich zuerst agierenden zu den später kommenden. Hier von Diebstahl zu reden ist einfach Unfug, zumal da noch andere Kriterien hinzukommen, wie wir weiter unten erfahren werden. .

Erwähnt sei an dieser Stelle noch die gelungene Propagandaaktion, die Johann Most („Eine gestörte Sedanfeier“ ) 1872 mit Liedern aus seinem Liederbuch arrangierte. Niemand würde da auf die Idee kommen, von gestohlenen Liedern zu sprechen. Aber eine durchaus vergleichbare Aktion schildert Hans Bajer:

„An einem Sonntag des Jahres 1930 führte unser Sturm mit noch anderen Stürmen einen Propagandamarsch durch den roten Berliner Norden durch. Zu unserem eisernen Bestand an taktfesten SA.-Liedern zählte natürlich das Revolutionslied (auch „Hitlernationale“ genannt). Kaum schallten die ersten Töne dieser vermeintlichen International machtvoll die Straße entlang und die Häuserreihen hinauf, als sich im Nu die Fenster öffneten und die Hausbewohner sich anschickten, ihre Leute mit Jubel und Beifall zu empfangen. Wer beschreibt aber die langen Gesichter, die da unten statt der ihrigen einen Zug Braunhemden marschieren sahen. Von oben und auf der Straße fiel man sofort kräftig in unser Lied mit ein: ‚Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpfe das Menschenrecht!’ Wir aber schmetterten mit aller Kraft dagegen: ‚Schon jubeln Siegessignale, schon bracht der Morgen hell herein, der nationale Sozialismus wird Deutschlands Zukunft sein!’ Es war uns eine Genugtuung, unsere Gegner zu einem so eigenartigen Gesangswettstreit herausgefordert zu haben. Plötzlich, beim Wort „Internationale“ brach das Donnerwetter über uns herein: Wir wurden, wie auf Verabredung, von oben mit Blumentöpfen, Presskohlen und ähnlichen harten Dingen bombardiert, so daß wir unser Lied mit der ersten Strophe beschließen mußten.“

Hans Bajer, Ruhmesblätter in der Geschichte des SA.-Liedes II. In: Die Musik XXIX/4 – Januar 1937, S. 264.



Anm. 1: zu nennen ist hier u. a. auch die Arbeit von Alfred Roth „Das nationalsozialistische Massenlied“, Würzburg 1993.



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