Die Mär vom „gestohlenen“ Liedgut (4)

Das Lied „Als die goldene Sonne“ ist zuerst von nationalsozialistischer Seite aus dem Jahr 1923 überliefert (1). Einer Darstellung des SA-Liederbuchs von 1935 folgend, wurde es am 21. Februar 1926 bei der Beisetzung eines SA-Mannes öffentlich gesungen. Ab 1932 ist es in fast allen Liederbüchern der NSDAP oder SA, meist an hervorragender Stelle übernommen worden. (siehe: Johannes Koepp, Deutsche Liederkunde. In: Jahrbuch für Volkslied und Volkstanz Bd. 1, Potsdam 1939, S. 128ff.)
Die Kommunisten tauschten lediglich das „Regiment von Hitler“ durch ein „Regiment Komm’nisten“ aus. (Roth, 1993, S. 122f.)  

Und das KPD-Mitglied Hans Fahr bezeugte: „Es war … eine Eigentümlichkeit im Kampf jener Jahre, daß sich die politischen Gegner die Melodien gegenseitig entlehnten und eigene Texte dazu sangen. Es gab z. B. ein textlich sehr schönes Lied über die Sehnsucht des klassenbewußten Arbeiters zum Sowjetstaat nach der Melodie des berüchtigten faschistischen ‚Horst-Wessel-Lieds’.“ (Nach: Mitteilung aus dem Jahr  1954. ALA (Arbeiterlied-Archiv Berlin) C 38/8, zitiert nach Broderick, 1995, S. 110.)

Auch übernahmen Kommunisten wie Sozialdemokraten das Lied von Florian Geyer (Wir sind des Geyers schwarzer Haufen). Es stammte von dem aus der rechten Jugendbewegung kommenden und bereits früh zum Nationalsozialisten gewordenen Fritz Sotke, der eine Reihe von Liedern aus der – oder auch nur der vermeintlichen – Zeit der Bauernkriege dokumentierte oder selbst kreierte.

Das soll erst einmal genug sein. Es finden sich genug Beispiele und es wäre sicherlich eine interessante Arbeit, die sich einmal intensiv mit diesen Wechselwirkungen auseinandersetzt.


Abschließende Gedanken
Bei manchen Liedern ist eine parteipolitische Zuordnung durchaus schwierig, da ihre Autoren selbst zu den Unentschlossenen gehörten und entweder hin und her oder (meistens leider) von links nach rechts gingen (z. B. Max Barthel).

Die Meinungsvielfalt in der Weimarer Republik brachte aus heutiger Sicht so manche Überraschung. Da waren sich nicht selten ganz links und ganz rechts einig, aber auch andere Meinungsgleichheiten würden heute sehr überraschen.

Bei den oben erwähnten Autoren fällt, wie bei vielen anderen leider auch, auf, dass sie versuchen, die KPD als friedlich und die Nationalsozialisten als militaristisch und kriegerisch darzustellen. Die Nazis waren zwar keineswegs friedlich, hatten aber Hitlers Doktrin entsprechend nicht auf gewaltsame Umsturzversuche, sondern auf die Wahlen gesetzt (wovon ja auch heute so mancher AfDler träumt). Bei den Kommunisten verhielt es sich ein wenig anders. Sie beteiligten sich zwar auch an den Wahlen, waren aber ständig damit beschäftigt Bürgerkriegsstrategien auszuarbeiten, denen zufolge nur der Bürgerkrieg zur Revolution führen würde. Die Mitglieder standen also ständig unter „revolutionärer Spannung“ (siehe auch: Werner Hinze, Bluttage). Man diskutierte oder stritt hauptsächlich um den richtigen Zeitpunkt.

Die Behauptung, es handle sich bei Liedadaptionen um Diebstahl, hat also nur den einen Zweck, die KPD positiv darzustellen. Mit anderen Worten, die Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten wird instrumentalisiert um andere, in diesem Fall die KPD, positiv erscheinen zu lassen.

Wenn ich mir so manche „wissenschaftliche“ Arbeiten ansehe, die seit 1970 geschrieben wurden, so schleicht sich eine gewisse Bekommenheit ein. Allzu häufig werden historische „Erkenntnisse“ benutzt, die von der KPD oder ihrer Nachfolgerin der SED betrieben wurden. Doch auch Westdeutschland war keineswegs unbeteiligt. Spätestens die Post-68er brachten eine „Faschismus-Diskussion“ zu Stande, die in wesentlichen Teilen von der DKP betrieben wurde. Ein Grund scheint deutlich hervor: Die Fehler der KPD in der Zeit der Weimarer-Republik sollen mit Vorwürfen gegen andere kaschiert werden.

Bei manchem Autor (z. B. Roth, Dithmar usw.) sind Meinungen zu lesen, die von einem Menschen geschrieben scheinen, der eine persönliche Betroffenheit durch Meinungen, Darstellungen und ideologische ‚Äußerungen von Nazis zu empfinden scheint. Eine ganz schlechte Voraussetzung für eine wissenschaftliche Aufarbeitung. Wir brauchen eine wissenschaftliche Distanz, auch wenn es manchmal schwerfällt. Was ich gut verstehen kann, da ich selbst gut zehn Jahre original Dokumente jener Zeit angesehen und verarbeitet habe. Man kann aber trotzdem seine politische Meinung deutlich zu erkennen geben. Ehrlicher wäre es jedenfalls, derartige Publikationen als Veröffentlichungen der KPD zu kennzeichnen.

Eindeutig ist, dass das politische System 1918/19 dramatisch verändert worden war und dass es Befürworter und Gegner des neuen Systems gab. Die Gegner wiederum hatten unterschiedliche Vorstellungen von einem anderen politischen System. Aus der traditionellen „Arbeiterbewegung“ heraus hat sich eine, die deutlich kleinere, Gruppe für eine Rätesystem nach russischem Vorbild entschieden, während die deutlich größere Gruppe die parlamentarische Demokratie, also die jetzt bestehende politische Ordnung wollte. Letztere hatte dabei zu Beginn eine deutliche Unterstützung der Arbeiter- und Soldatenräte und wie die erste Wahl zeigte auch die deutliche Unterstützung der Wähler. Dass auch die NSDAP Unterstützung von Teilen der „Arbeiterbewegung“ hatte, ist bis heute für viele immer noch ein Tabu. Anstatt es endlich sinnvoll aufzuarbeiten, werden absurde Konstruktionen entworfen, zu denen auch die Behauptung des „gestohlenen Liedguts“ gehört.

Dr. Werner Hinze,
Stand: September 2020






< Zum Anfang  /  Rundgang KPD: Agitprop >
Rundgang NSDAP:



ALAL-oben-25.jpg
          MVU     Wir über uns     Die Wissenschaftsentwicklung    Aufruf
KPD-Reihe-11a.jpg
 
 
Arbeiterliedarchiv
Lancken
Reinh-4-6bx.bmp
im e.V.
Musik von unten
 
 
A
J
S
B
K
T
C
L
U
D
M
V
E
N
W
F
O
X
G
P
Y
H
Q
Z
I
R
Home  
Aktuelles / Termine
Liederwerkstatt
Publikationen

Volksliedarchiv Lancken

Arbeiterliedarchiv Lancken
Stichworte 
Zeit / Epoche 
Bauernkrieg,
Freiheitskriege,
Vaterland,
Heimat,
Hymne,
Polenlieder,
Deutsch-Französischer Krieg 1870-71,
Sedanfeier,
Handwerksburschen
Deutscher Bund (1815-66)
1848
Norddeutscher Bund (‘66-71)
DAS
Instrumentalmusik
Polenlieder
Vagabund Kunde Monarch
Vom Kaiserreich zum 1. WK
Soldatenlied

Weimarer Republik
Frontkämpferlied
Jugendbewegung
Partei / Gruppe
Sport - Radfahrer - Turner
Agitprop
Nationalsozialismus u. 2. WK
BRD
DDR
Liedverbote
Synonyme
Bauern - Landagitation
1. Mai / 8 Stundentag
Frauen / Emanzipation
Feiern, Fest usw.

Personen
Berufe / Geschäfte
Glaube / Einstellung
Liederbuch