Der Erste Weltkrieg (2)
Das Deutsche Volksliedarchiv
in Freiburg wurde im Frühjahr des Jahres 1914
gegründet. Unmittelbar nach Ausbruch des
Ersten Weltkrieges begann der Leiter dieser
Einrichtung, Professor John Meier, mit dem Aufbau
von Kriegssammlungen. Entsprechend dem
Gründungszweck des Archivs, nämlich
deutschsprachige Volkslieder zu sammeln,
dokumentieren und zu erforschen, standen dabei
lyrische Texte im Vordergrund. Neben einer
Zeitungsausschnittsammlung mit Kriegsgedichten
(14.000 Gedichte) wurde mittels einer
Fragebogen-Aktion damit begonnen, Soldatenlieder
empirisch zu erheben. Eingeleitet wurde diese
Aktion mit Genehmigung der Heeresleitung und mit
Unterstützung des Verbandes Deutscher Vereine
für Volkskunde. Aufgrund von mehreren hundert
Briefeinsendungen (Sign. Sl) wurden - allerdings
erst nach Ende des Ersten Weltkrieges -
archivalische Liedbelege angefertigt (Sign. A
106413 bis 109416).
Bei der Erfassung von
lebendigem Soldatenliedgut durch das Deutsche
Volksliedarchiv wurden den Soldaten vielfach die
Hefte der Reihe: Alte und neue Lieder mit Bildern
und Weisen, Leipzig o. J., als Gegengabe für
gute und reichhaltige Auskünfte ins Feld
geschickt.
Die Soldatenliederbücher
wurden als „Liebesgaben“ ins Feld
versandt und von den Bahnhofsmissionen mit der
Marschverpflegung an durchreisende Soldaten in die
Eisenbahnwagen gereicht. Einige
Kommunalbehörden verteilten zu Beginn des
Krieges an jeden ausziehenden Soldaten ein
Liederbuch. Vor allem das „Kriegsliederbuch
für das deutsche Heer 1914“ mit 52 der
bekanntesten älteren Soldaten- und
Vaterlandsgesängen fand auf diesem Wege seine
Abnehmer. Am eifrigsten war der am 18. August 1914
gegründete „Gesamtausschuß zur
Verteilung von Lesestoff im Felde“. Um den
Spendern, darunter auch Behörden und Vereine,
Mühe und Kosten zu ersparen, fungierte
er u. a. als Sammel- und Verteilerzentrale aller
Liederbuchstiftungen.
Mit Genehmigung der
kaiserlichen Regierung übernahm der
Zentralausschuss der Inneren Mission zusammen mit
dem Zentralkomitee der deutschen Vereine vom Roten
Kreuz die Versorgung der Truppen im Feld und in den
Lazaretten mit Büchern und Schriften. Aus
dieser Zusammenarbeit entstand eine Vereinigung,
die Aufrufe zur Einrichtung von
Kriegsbüchereien erließ. Ein
Gesamtausschuss wies den einzelnen Gruppen
besondere Aufgaben zu. Das gemeinsame Ziel
hieße „Siegen“. Dazu wolle man
„den Geist der Truppen frisch erhalten und
den Verwundeten Trost und Unterhaltung
bieten“. Am 18. August 1914 gab es gemeinsame
Richtlinien zur Auswahl und zu dem Versandt der
Bücher des Gesamtausschusses. Man einigte man
sich darauf, welche Bücher erwünscht und
welche unerwünscht seien.
Als erwünscht werden in
dem Verzeichnis aufgeführt:
a) Romane, Novellen,
kleine Erzählungen, Kalender, illustrierte
Blätter.
b) Lebensbilder,
Kriegsgeschichten, Reiseschilderungen,
Erdbeschreibungen, volkstümlich belehrende
Schriften naturwissenschaftlichen Inhalts und aus
anderen Gebieten
c) religiöse
Schriften
Als unerwünscht galten:
a) Bücher
erotischen und schlüpfrigen Inhalts,
Hintertreppenromane und Detektivgeschichten
b) Bücher gelehrten
Inhalts und Schriften, die schwierige
philosophische Probleme entwickeln
c) Schriften, die
Staats- oder Kirchenpolitik in polemischem Sinne
behandeln
d) Schriften mit
pessimistischer oder sonst krankhafter Tendenz,
auch weichliche Lyrik
e) Schriften, die
Deutschlands Feinde verherrlichen
Später wurden auch
Klassiker und vor allem humoristische Schriften
empfohlen, um den Soldaten von der oft grauenvollen
Wirklichkeit des Stellungskrieges abzulenken, sein
Gemüt zu erheitern und seine Nerven zu
beruhigen.“ Alles, was der Soldat erlebt,
fühlt und denkt, sollte als potentieller
Liedinhalt in Frage kommen.
Im Laufe des Krieges passte
man sich stärker den Wandlungen des Geschmacks
und Lesebedürfnisses der Soldaten an. Bis zum
1. Oktober 1916 waren beim Gesamtausschuss zur
Verteilung von Lesestoff im Feld und in den
Lazaretten über acht Millionen Bücher und
Schriften als versandt gemeldet worden (vgl.
Elbers, S. 127f.). Der ganz große Erfolg
stellte sich aber erst durch die Einrichtung
fahrbarer Kriegsbüchereien ein, die von einem
Felddivisionspfarrer angeregt und 1916 begonnen
wurden.
In ihrem individuellem
Bestreben schickten - unterschiedlich motiviert -
auch viele Komponisten in den ersten Kriegsmonaten
von sich aus Tausende von Freiexemplaren ihrer
neuen Kriegslieder an die Front. Außerdem
boten Unterhaltungsabende in der Etappe oder im
Lazarett, bei denen Soldaten- und Heimatchöre
auftraten und vor allem Soldaten- und
Vaterlandslieder zum Besten gaben, auch die
Möglichkeit der Verbreitung von neuen Liedern.
Überwiegend aber war die Auswahl der gebotenen
Lieder auf das Kriegsziel abgestimmt. Soldatenheime
hinter der Front sollten die Soldaten der
Fronttruppen ablenken und ihnen mit der
Unterhaltung helfen sich zu beruhigen und das
seelische Gleichgewicht wieder zu erlangen.
Einen nicht zu
unterschätzenden Einfluss auf die Truppe hatte
die Feindpropaganda. Während vor 1917 kaum ein
Einfluss auf die Truppe zu spüren war, wurden
die Kameraden an der Front zunehmend
anfälliger. Nach französischen Quellen
wurden Elbers zufolge im Sommer 1918 täglich
etwa 100.000 Flugblätter über den
deutschen Gräben abgeworfen oder
herübergeschossen. Die
Postüberwachungsstellen und die
Eisenbahnüberwachungsreisenden stellten fest,
dass sich die Soldaten nicht selten in ihren
Briefen bzw. bei Gesprächen im Zug mit dem
Inhalt der Flugblätter beschäftigten.
Franzosen und Engländer fanden bei den
Kriegsgefangenen aufbewahrte Flugblätter vor.
Nach umfangreichen Abwürfen im Juni 1918
mehrten sich Anzeichen dafür, dass die
Flugblätter von den deutschen Soldaten
vielfach selbst weitergegeben oder durch
Abschriften verbreitet wurden.
Zu Beginn des Krieges wurde
die Sangesfreude der Soldaten hauptsächlich
mit älterem Material gestillt. Die
Liederbücher hatten in der Regel ein
Repertoire aus heimatbezogenen,
vaterländischen, humoristischen und
volksliedhaften Liedern. Bei den
vaterländischen waren die zentralen Themen auf
die Befreiungskriege und den Krieg von 1870/71
konzentriert. Elbers berichtet:
„Es fällt auf,
daß die Losungen des 1. Weltkrieges sich mit
Vorliebe aus der Quelle der Kampfparolen von 1813
speisen. „Vaterland“,
„Freiheit“, „Ehre“,
„Gottvertrauen“ begegnen in den
älteren Liedern auf Schritt und Tritt. Diese
Schlagworte, in der Zwischenzeit stark abgegriffen
und nicht durch bessere ersetzt, will man im 1.
Weltkrieg wieder mit dem zündenden Sinngehalt
ihrer ursprünglichen Bedeutung füllen.
Die Begeisterung und mitreißende Kraft, die
aus den alten Freiheitsliedern spricht, wird jetzt
als Ansporn der Massen eingesetzt.“
Auf das Repertoire der
Soldaten hatten die wohl meisten Auswirkungen die
Lieder von 1870/71. Doch die Situation war 1914
eine deutlich andere.
Das neue Soldatenlied
a) das propagandistische
hurrahpatriotische Soldatenlied
Mit Kriegsbeginn sah eine
Vielzahl von Hobbypoeten ihre Stunde als gekommen
an. Nicht wenige verlegten im Eigenverlag ihre
Werke, in der Hoffnung zu einer gewissen
Berühmtheit zu gelangen. Sie taten das nicht
selten mit dem vermeintlich werbewirksamen Zusatz,
dass ein Teil des Reingewinns patriotischen
Einrichtungen wie dem Roten Kreuz, der
Kriegswaisenfürsorge oder der
Unterstützungskasse für Kriegsinvaliden
zufließen würde. Der Käufer
würde sich also durch den Erwerb eines Heftes
verdient machen. Der österreichische
Heimatdichter Peter Rosegger gab diesen
Herausgebern den Rat, lieber das Geld für den
Druck zu sparen und es gleich für die
genannten Zwecke zu spenden. So geschah es auch,
dass der größte Teil dieser
Kriegspublizistik keinen Bestand hatte und nach und
nach verschwand.
Mit Beginn des Stellungskriegs
verschwand auch der Enthusiasmus der Anfangsphase.
Erstmals wurden - anfänglich eher vereinzelt -
Fragen über Sinn und Zweck des Krieges laut.
Erste kriegsgegnerisch und pazifistische Stimmen
tauchten auf.
Die große Schar der
„publizistischen Konjunkturritter“
(Elbers) verstummte und mit ihnen die martialischen
Ausbrüche der „Aufbruchszeit“. Den
dilettantischen Ehrgeizlingen folge die Elite, die
aber mit ihren Versuchen ein „gewisses
Maß an konstruierter Begeisterung, an
Siegeszuversicht und Durchhaltewillen
aufrechtzuerhalten“ scheiterte. Da aber in
der Heimat und an der Front bereits ablehnende
Tendenzen und Zersetzungserscheinungen bemerkbar
machten, war der Erfolg eher gering. Außerdem
liefen sie ständig hinter der Volksstimmung
her. Sie hatten weder einen Draht zum einfachen
Volk, noch aktuelle Informationen über den
Kriegsverlauf. Es zeigte sich deutlich, dass die
Kriegslyrik „in Grundhaltung, Thema und
Argumentation weitgehend in den geistigen Grenzen
einer Minderheit von bildungs- und
vaterlandsbeflissenen Zeitgenossen aufhielt“.