Kaufmann, Fritz Mordechai
(Hrsg.)
Die schönsten Lieder der Ostjuden.

Siebenundvierzig ausgewählte Volkslieder
herausgegeben.
Jüdischer Verlag, Berlin 1935.

Zweite Auflage (EA 1920)

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Einleitung (S. V—VIII)

Auswahl der Lieder

Diese Auslese von 47 Liedern des Ostens erhält ihren selbständigen Wert zulieb der Tatsache, daß ein wohlfeiles und in jedem Belang repräsentatives jüdisches Volksliederbuch für die praktische Benutzung, zumal durch Westjuden, bisher nicht erschienen ist. Das treffliche Petersburger Liedersammelbuch, das jedoch einem andern Ziel, der ostjüdischen Volksschule, dienen wollte, ist bereist seit Jahren vergriffen. alle anderen populären Sammlungen haben der Sache unseres Volksliedes mehr geschadet als genutzt.

Grundlage waren mir die Lieder, die ich selber Ostjuden abgelauscht hatte, dazu habe ich das gesamte bis heute gedruckte Material herangezogen und verglichen. Bisher noch nicht veröffentlicht sind die drei schönen Gesänge Nr. 8, 9 und 21, die ich Jankew Seidmann verdanke, und die chassidischen Lieder Nr. 3, 5 und 6; diese sind mir von Jankew Kargher, dem Volksliedersänger und guten Kenner rumänisch-chassidischer Volksgebräuche, übermittelt worden. Das übrige befindet sich, zum Teil in erheblich anderer Fassung als ich sie hier vorlege, in den Sammelwerken der verdienstvollen Forscher Ginzburg-Marek und Cahan, sowie in den Ausgaben J. Engels und der Petersburger Gesellschaft für jüdische Volksmusik. Da nun häufig die gleichen Lieder bei den verschiedenen Autoren nicht unbedeutende Abweichungen aufweisen, im Text nicht minder als in der Melodieaufzeichnung, mußte ich immer wieder auf das Lied, wie es vom Volke gesungen wird, zurückgreifen, um das Volkstümliche und Echte dem Aufputz und der „Verschönerung“ vorzuziehen. Das Grundsätzliche, das den Plan dieses Buches bestimmte, mag man in dem Merkblatt „Das jüdische Volkslied (Schriften des Ausschusses für jüdische Kulturarbeit, Berlin 1919) nachlesen. Dort finden sich auch die unentbehrlichsten Angaben über die ostjüdische Singweise, über die technischen Behelfe für den Westjuden, über die Sammelwerke, die Einzelausgaben, über Programme, Begleitungsart und über weiteres Wissenswerte.


Zur Melodieaufzeichnung

Einige Zeichen für die Tonstärke und das Zeitmaß werden in dieser Auslese etwas ergiebiger verwendet, als es sonst in derlei Ausgaben zu geschehen pflegt. Ich hatte zu berücksichtigen, daß diese Lieder dem Westjuden fremdartig und daß er ihren Rhythmus und irhe Singweise nicht, wie beim deutschen Lied, als natürliche Gabe aus der Kinderstube mitbringt. Daher auch die häufige Verwedung von Luftpausen: V, um das charakteristische rezitativartige Singen vieler Stellen nicht ganz der Willkür des ungeübten und oft ratlosen Benutzers zu überlassen. Aus demselben grunde wurden manchmal einzelne Takte aus Strophen, in denen die Verteilung der gehäuften Worte auf die einzelnen Zeitmaße schwierig ist, noch besonders beigefügt. Das Prinzip, die Melodie stets nur für die erste Strophe hinzusetzen, ist dort durchbrochen, wo das musikalische Bild der späteren Strophen sich bedeutend erweiterte; solches geschah in den Liedern Nr. 7, 9, 20, 21, 38.

Der Lautensatz ist in vereinfachter strenger Form notiert. Er will den geübten Spieler, der imstande ist, sich selber den begleitenden Ausdruck zu gestalten, nicht binden, aber dem Anfänger im Lautenspiel und in der Melodik des jiddischen Liedes das Experimentieren ersparen.

Die intime Atmoshäre vieler dieser Lieder verlangt streng nach dem Einzelgesang. Jedoch in den Liedern mit refrainartigen Wiederholungen, insbesondere in Nr. 1, 5, 6, 9, 20, 21, 30, 47 halte ich das allmähliche Einsetzen und die Beteiligung weitere Stimmen für zulässig. Im übrigen sei es Grundsatz, bei jeder Gelegenheit zu noch wurzelhaften Ostjuden in die Schule zu gehen und sie, nicht so sehr im Konzertsaal als im vertrauten Kreis, singen zu hören.


Zur Benutzung der Transkirption

Für den Ostjuden hat der in der linken Spalte jeder Seite stehende Antiquatext keine Geltung, so wenig, wie die vereinfachte, dem Jiddischen angepaßte Schreibung der hebräischen Worte; dem Westjuden gibt er die einzige Handhabe, diese Lieder annähernd richtig zu singen. Auch dann, wenn er mähelos die Quadratschrift zu lesen versteht, darf er sich zunächst nur an die gebotene Transkription halten. Um diese richtig zu verwenden, präge er sich die Aussprachezeichen gründlich ein. Diese Zeichen stellen eine Vereinfachung der verdienstvollen praktisch-phonetischen Aufstellungen Salomo Birnbaumr dar. Für die sechs Hauptklänge, nach denen sich die
beiden großen Dialekte des Jiddischen utnerscheiden, werden also hier sechs optisch in ihrer Bedeutung leicht erkennbar Schriftzeichen eingeführt:

u - i - ôi - oú - á - æi.

Der untere Teil dieser neutralen (d. h. für beide Dialekte geltenden), zusammengesetzten Buchstaben gibt die Aussprache für den (polnischen =) u-Dialekt an; der obere (und im Zeichen æi der mittlere, das e) entspricht der Aussprache im (litauischen =) o-Dialekt. Die dritte ài-Mundart der südrussischen und eines teiles der galizischen Juden ist der Vereinfachung wegen unberücksichtig geblieben.

In der Transkription ist also:




Für das jiddische ch = ... ist auf ein besonderes Zeichen verzichtet worden, obwohl gegen die Aussprache dieses typischen östlichen Lautes von Westjuden meistens verstoßen wird. Der Leser sei daher beständig aufmerksam und eingedenk, daß ‚ch’ im Jiddischen niemals, auch nicht am Wortanfang, wie in den deutschen Wörtern ‚ich’, ‚Licht’, ‚Hündchen’ ausgesprcohen wird, sondern stets als Kehllaut wie ich ‚acht, lachen’.

Weiter sei bemerkt, daß a = $ niemals wie in ‚fahren’, sondern immer gespannt wie in ‚Hacke’ gelesen wird; e = ? oder ... niemals wie in ‚ledig’ sondern stets wie der ä-Laut in ‚Hetze’; o = ...


Der originale jiddische Satz ist ebenfalls systematisch angelegt; insbesondere entspricht die Punkttation (...) genau den Transskriptionszeichen (? - i - ôi - oú - á - æi), so daß nach einger Einübung des transkribierten Textes, die aber immer wieder und sehr gründlich vorgenommen sein will, mühelos zur Benutzung der Quadratschrift übergegangen werden kann. Man beachte dabei aber besonders den Unterschied zwischen ....
Auch darf der Leser sich nicht daran stoßen, daß für den deutschen b-Laut ständig ... ohne ...

S. VIII
erschienene „Jiddische Grammatik“ von Salomo Birnbaum (188 Seiten, gebunden nur 2 Mark, Verlag A. Hartleben, Wien 1919), eine sehr erfreuliche und solide Arbeit, verwiesen.



1. Religiöse und Chassidische Lieder

Bei den Juden fällt es schwerer als bei europäischen Kulturvölkern, aus der Fülle der Volkslyrik so etwas wie eine besondere Gruppe „religiöser“ Lieder auszusondern. Denn während das Religiöse im Volkslied Jener nur eienn begrenzten Bezirk hat, ist es bei den Juden die weitumfassende Landschaft, in der fast alle diese Dinge wurzeln: die meisten (selbst Kinder-, Handwerker- und Soldatenlieder) in ihrem Inhalt ganz offenkundig, sogar die Liebeslieder häufig in ihrem Musikalischen. Auch die Abgrenzung des religiösen Volskliedes gegen die liturgischen (synagogalen) Gesänge ist nicht immer leicht. Zu viele davon sind bei dem zwanglosen Neben- und Ineinander von „schil“ und weltlichem Getriebe in das Alltagsbewußtsein der Massen fest einbezogen worden. Hier rühren wir an die entscheidenden Zusammenhänge. Wie begabt sich selbst heute noch der Ostjude als Kollektivum für das Erfinden von Liedern und Melodien erweist - niemals hätte unser Volk in wenigen Jahrhunderten die bedeutenden und mannigfachen Typen des weltlichen jiddischen Lieds durch tausende beachtenswerter Einzelschöpfungen hervorgebracht, wenn nicht vorher die langen Jahrhunderte hindurch seine Organe für Sage und Legende, für Sitte und Bildhaftigkeit, für Tonart, Rhythmus und Melodie aus dem Zentrum einer riesenhaften Religiosität gerichtet, genährt und endgültig geformt worden wären. Um daher ein natürliches Verhältnis zum jiddischen Volkslied allgemein und zu seinem gesteigerten Ausdruck in den entscheidenden Ausprägungen wahrzunehmen suchen, bis man erkennt, wie hier jede Äußerung weltlicher Freude und Trauer - von der Hochzeit bis zum Tode - gebettet ist in religiöse Formen und Inhalte. Desgleichen soll man sich bemühen, die musikalische Urform und den Quell dieser volkslieder dort aufzusuchen, wo sie, noch immer altertümlich und von der Tradition vor Vermischung geschützt, sich noch heute darbieten: in den Lehr- und Gebethäusern des jüdischen Ostens. Der Westjude wird dort Schätze entdecken, die er, abgestoßen von dem gleichgültigen Klang deutschjüdischer Kantorenmelodien, niemals vermutet hätte.

 
 
 
 
 
 
 
 
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