Hurdy-Gurdy (engl.)

meint eigentlich die Dreh- oder Radleier, wurde aber häufig für die Drehorgel (engl. Barrel-Organ) oder Leierkasten benutzt

Die Hurdy-Gurdy-Girls 

1865 empörte sich Wilhelm Kayser in den von Johann Hinirch Wichern gegründeten „Fliegenden Blättern aus dem Rauhe Hause zu Horn bei Hamburg“ über junge Frauen, die nicht nur auf der Straße herumzogen und die Drehorgel (die fälschlicher Weise mit dem Titelbegriff gemeint sein dürfte) spielen ließen, sondern auch noch sangen und tanzten. Von den protestantischen Sorgen und Bedenken - die nicht in allen Belangen nur aus spießigen Ängsten bestanden - abgesehen, bietet der Beitrag einen interessanten Einblick in die Welt von Kritiker und deren Objekte:

„(…) Der jetzt verstorbene General-Superintendent Wiesmann theilte mit, daß er bei einem Badeaufenthalt in Homburg einem ganzen Zuge junger Mädchen begegnet sei, die von einem Manne geführt wurden. Als er sich nach dem Zweck und Ziel der Reise erkundigt, hätten die Leute gesagt, der Mann komme alle Jahre und werbe Dirnen an für Petersburg und andere Städte, zahle viel Geld und finde immer eine Schaar, die mit ihm in die Fremde ziehe. […]

Schon vor ungefähr 50 Jahren wurden von Leuten aus dem Nassauischen Dörfchen Espa bei Butzbach ein Handel mit Fliegenwedeln angefangen. Die Armuth und Erwerbslosigkeit der Gegend mag sie dazu verlanaßt haben. Im Winter schnitzten sie die Fliegenwedel, bemalten sie noch, und verkauften sie dann besonders in England. Diese bequeme und etwas anständigere Art des Bettelns, das leichte abenteuerliche Leben, das dabei geführt wurde, zog bald Andere an, und allmählig wurde dieser Erwerbszweig ein Privilegium von 5 - 7 hessischen Orten (Kreis Friedberg, Amt Butzbach). Man reist nach verschiedenen Ländern Europas, besonders auch nach Rußland und brachte oft viel Geld mit heim. Allmählig genügte der Handel mit Fliegenwedeln nicht mehr. Man kam darauf, Drehorgeln und Harmonikas anzuschaffen und durch das Spiel derselben auf den Straßen und namentlich im Wirthshaus Geld zu verdienen. Mann, Weib und Kinder zogen und ziehen noch mit diesen Instrumenten in die Fremde; bald genügte ihnen Europa nicht mehr, die Geburts-, Copulations- und Todesscheine in einzelnen Pfarrarchiven weisen fast alle von Europäern besuchten Länder der Erde nach, Südafrika, Südamerika, China, Indien und Südseeinseln, zumeist aber Californien und Australien. Als die Goldgruben in den beiden letzgenannten Ländern entdeckt wurden, wandte man sich besonders dahin und legte sich aufs Goldgraben. Die Meisten aber blieben bei der Musik. Die Drehorgeln lassen sie sich im Schwarzwald bauen. Unzüchtig tanzende Figuren drehen sich darauf zum Spiel. Mit diesen Instrumenten, ‘Biann’ (Piano) in ihrer Sprache, und mit dem, was mit Musikmachen zusammenhängt, verdienen sie oft große Summen Geldes. Manche sind schon mit 20 bis 30.000 Gulden heimgekehrt. Andere sind nicht so glücklich. Alle aber gewinnen doch so viel Mittel, um nach der Heimkehr ein ziemlich sorgenloses Leben führen, die Meisten, um sich schöner und luxuriöser einrichten und dann in bequemer Müssigkeit von den Strapatzen des Reiselebens ausruhen zu können. Es ist schon bis so weit in der Entwicklung der Landgängerei ein gewisser Fortschritt in der Unsittlichkeit des Erwerbes bemerklich, den ohne Zweifel das Gelüste nach reicherem Gewinn veranlaßt hat. Aber auch hierbei blieb es nicht. Schon vor etwa 10 bis 15 Jahren kamen einige Orgelbauer auf den Einfall, Mädchen in ihre Dienste zu nehmen und sich von ihnen die Orgeln traen zu lassen. Die Mädchen mußten singen und das Geld sammeln. Dafür beköstigte sie dann ihr Herr und zahlte ihnen einen hohen Lohn. So gings wieder eine Weile, und Herren wie Mägde glaubten sich dabei gut zu stehen. Aber die Lokale, in denen gespielt und gesungen wurde, waren zumeist Wirthshäuser, öffentliche Orte, Tanzlokale. Häufig, zumal in Californien fehlte es an Tänzerinnen. Die Orgelmädchen halfen für Geld aus, und ihre Herren merkten, daß sie dabei ein noch besseres Geschäft machten; sie vermietheten darum ihre Mägde auf 2, 3, 4 Nächte an Wirthe, die Tanzlokale halten und bekamen nach der Güte ihrer Lieferungen mehr oder weniger Geld. Dieses Geschäft rentirte sich außerordentlich. Die schönen Kleider, die die Mädchenhalter den gedungenen Mädchen schenkten, das leichtsinnige, üppige Leben, das ihnen von Kind auf geschildert wurde, die Aussicht auf Gewinn und eine bequeme ‘vornehme’ Zukunft weckte in den Mädchen schon lange vor der Confirmation das Gelüste, mit ‘ins Land zu gehen’, besonders nach dem schöen ‘Calfrum’ (Californien). Darum ist an ‘Tanzmädchen’ wenig Mangel, wie an wenig Mangel, wie an Männern in der Gemeinde, die das Gewerbe des Mädchenhandels treiben. (…)

Es ist eine eigenthümliche Thatsache, daß dies Unwesen der Landgängerei genau auf die Orte beschränkt geblieben ist, die von Anfang an diesem Gewerbe sich zugewandt haben. Es sind das, soweit uns bekannt geworden, die Orte Nieder-Weisel, Hoch-Weisel, Madbach mit Bodenrad, Münster mit Fauerbach und Langenhain mit Ziegenberg. Die Landgängerei hat in jedem Orte gewöhnlich immer dasselbe Ziel, je nachdem von den Angehörigen die Wege einmal gebahnt sind. So geht man in Neu-Weisel fast allein nach Californien. Nach Australien und Neuseeland gehen neuerdings nur Wenige. In Hoch-Weisel geht man in der Regel nach Paris; eine viertel Stunde davon in Münster außer nach Californien besonders nach Rußland, (…) in Langenhain scheinen sehr Viele nach Cuba zu gehen. Es sind sämmtlich Landgemeinden, dicht an der Eisenbahn zwischen Nauheim und Butzbach, im Kreise Friedberg, Provinz Oberhessen. […]

Das Geheimnißvollste bei der Landgängerei ist der Contract zwischen Mädchenhalter und Tanzmädchen und die Bedingungen desselben. Nur gerüchteweise hört man davon. Es wird in Gegenwart von einer Reihe Zeugen, in der Regel bei einem festlichen Mahle oder Kaffee, im Beisein ortsbehördlicher Personen ein schriftlicher Contrakt festgesetzt. Die Eltern erhalten für eine Tochter (oft unmittelbar; oft 1- 2 Jahre nach der Confirmation) 600 bis 1000 Gulden Kaufgeld, dem Mädchen selbst wird gute Kost, schöne Bekleidung und ein Lohn von jährlich ungefähr 100 Gulden zugesichert. Der Contract wird gewöhnlich auf 3 Jahre abgeschlossen. Ueber das, was die Mädchenhalter in Californien mit den Mädchen anfangen, hat man nur Muthmaßungen, daß sie aber gute Geschäfte machen, mag man beispielsweise an dem einen derselben, der vor einigen Jahren nach Californien ging, ersehen, der jetzt ein schönes Landgut bei Marysville besitzt und schon nach 3 Jahren über 30.000 Gulden heimgeschickt haben soll. Von ihm weiß man, daß er die gedungenen Mädchen in verschiedenen Lokalen tanzen ließ, - dann, selbst gentil gekleidet, von einem Lokal ins andere ging, die Tänzerinnen wie ein Unbekannter belobte und nach einer Weile ein oder ein paar Goldstücke ihnen zuwarf, dann folgten in der Regel viele andere Goldstücke, welche nachher mit denen, welche sie von ihrem Prinzipal erhielten, abgeliefert werden mußten, und so füllten sich die Taschen des emsigen Menschenhändlers. […]

Die abhängigen Tanzmädchen werden fast alle von ihren Herren, welche selbst meistens in der Hauptstadt San Francisco bleiben und des Wohllebens pflegen, in die Minendistricte gesandt. Sie ziehen in Truppen vo gewöhnlich 3 Mädchen, begleitet von der Frau des Mädchenhalters, oder einer in seinem Dienste stehenden Person, von einem Minenplatz zum andern. Der unmittelbare und ostensible Beruf dieser Mädchen ist nicht der der Liederlichkeit, und es würde schwer fallen, dieses nachzuweisen, obwohl ihre Lebensweise in den meisten Fällen in eine geistige und körperliche Prostitution ausarten muß. Unter den Minenbewohnern ist das Weib eine Seltenheit, es giebt zwar hier und da Familien, auch nehmen dieselben erfreulich zu, doch ziehen selbe sich der Natur der Sache nach von dem öffentlichen Leben, so sehr wie möglich, zurück. Das Tanzmädchen dient dazu, den Mangel an Tänzerinnen für die Tanzlokale Abends und Sonntags auszufüllen. Die Harfen-Mädchen Deutschlands, obwohl eine minder zahlreiche Classe und durchschnittlich mit etwas mehr Politur ausgestattet, könnten als eine Art Parallele der bäurischen Hurdy-Gurdy-Girls Californiens gelten. Letztere erhalten für jeden Tanz von ihrem Tänzer eine Geldvergütng von ¼ oder ½ Dollar, die sie ihrer Begleiterin abliefern müssen, und außerdem verstehen manche von ihnen durch Coquetterien sich Geschenke zu verschaffen, zu deren Ablieferung sie je nach Uebereinkommen verpflichtet sind oder nicht, wobei also im ersten Falle alles von ihrer Ehrlichkeit abhängt. Außerdem werden die Mädchen nach dem Tanze von den Tänzern an’s Buffet geführt und Tractirt, wobei der Wirth seine Rechnung findet.

Das Risico, welches der Mädchenhändler läuft, liegt in der Gefahr, zunächst, daß ihm die Mädchen nach der Ankunft weglaufen, wodurch schon Mancher dieser Seelenhändler große Verluste erlitten hat; - und sodann daß er in Strafe verfällt. Das Risico der Mädchen liegt darin, daß sie am Ende Schwierigkeiten begegnen möchten, ihre contractlichen 1000 Gulden zu bekommen. […]

(Wilhelm Kayser, Die „Landgänger“ im südwestlichen Deutschland, in: Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause zu Horn bei Hamburg Nr. 22, 1865, S. 168ff.)


Copulationsschein = Heiratsurkunde.
Contract = Vertrag.
ostensible = offensichtliche.
Tractirt = bewirten.



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