Zur Speisekarte des Kunden 

Die „Speisekarte“ des Kunden ist naturgemäß eher derb. Es ist jedoch nicht nur interessant, womit sich die Kunden ihre Hunger- und Durstgefühle stillen, sondern auch aufschlußreich was für Namen sie ihren Speisen und Getränken geben. Über die Bedeutung und weit verzweigte Herkunft dieser Bezeichnungen sowie der Essen- oder Trinkgebräuche hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts L. Günther einige Gedanken gemacht:

„… so indirekt durch Ausdrücke wie Brotlade für den Mund und Gottesgabendrechsler für den Bäcker, die auf einen starken Konsum bezw. eine hohe Wertschätzung des Brotes schließen lassen, ferner unmittelbar z.B. durch das Abstraktum Sehnsucht für die konkreten Begriffe „Wurst“ oder „Schinken“, die danach schon als ein meist unerreichbarer Lucus erscheinen. Die Anspruchslosigkeit in Bezug auf Essen und Trinken lassen auch vermissen die ziemlich geringschätzig klingenden Bezeichnungen Suppenstationen für die Naturalverpflegungsstationen (Herberge, die nur gegen Arbeitsleistung Obdach und Speise gibt), Theewinde, Grützkasten oder gar Hungerkloster für das Krankenhaus. Enthält der letztere Name eine besonders starke pessimistische Uebertreibung, so sind dagegen für das wirkliche Hungern mehrere euphemistische Umschreibungen gebräuchlich, die das Vorhandensein der ersehnten Nahrung in Form bestimmter Gerichte gleichsam vorzutäuschen versuchen. Der Hungrige „schiebt“ nämlich „Kohl“ oder „Kohldampf“ oder er „schnappt Luftklöße und Windsuppe“ oder „ißt“ gar „Luftsuppe und Windbouletten“. Diese zierlichen Bouletten erinnern dabei fast an die berüchtigten, mit welschen Brocken gespickten „Menus“ unserer großen Gasthäuser. Französisch und andere moderne Fremdsprachen sind darin nur spärlich vertreten. Dagegen haben - durch Vermittlung des Rotwelsch - das Hebräische (bewz. Jüdisch-Deutsche) und die Zigeunersprache, neuerdings dann auch noch das Lateinische einigen Einfluß geübt.

Von hervorragendem Interesse ist die Umgestaltung oder gar Andeutschung, die einzelne hebräische Vokabeln erfahren haben. So erscheint Lechum, Legum (Leg` um) und Lehm- als ob es sich um einen Vergleich des zähen Brotteigs mit einer Lehmmasse handle. Davon hat seinen Namen auch der Lehmer, d.h. der Bäcker, sowie sein vornehmerer Kollege, der Süßlehmer, d.h. der Konditor. Ein ganz ähnlich klingendes Süßchenbäcker bedeutet dagegen - den Pferdemetzger und ist verunstaltet aus Zößchen-Peuker (oder Zoskenpeiker), zusammengesetzt aus Zößchen (Zoschen, Zosken) = Pferd oder Pferdefleisch (von hebr. sus = „Pferd“, plur. súsîm) und peikern u.ä. = sterben, umbringen, schlachten (vom hebr. peger = „Leichnam“). Soruff, Soroff, Soref (auch wohl Oluf oder angedeutscht Sauf) für den Branntwein gehört zu hebr. saruf part. pass. von saraf = „brennen“. Schockelmei oder Schottlemojum für Kaffee heißt eigentlich „schwarzes Wasser“ (vom hebr. schachor, jüd. Schôchor = „schwarz“ und majim = „Wasser“).

Von den Zigeunern übernommen ist Marro oder Masso für das Brot (aus dem gleichbed. maro, das schon in dem altindischen mandha für „eine Art Gebäck“ enthalten ist). […]

Vom lateinischen Brocken sind hauptsächlich zwei Bezeichnungen für den Branntwein anzuführen: fine, eine Abkürzung von spiritus vini, und Sanktus, eine Parodie aus spiritus sanctus, die namentlich im katholischen Oesterreich verbreitet sein soll. […] An eine bei unseren Studenten einst viel beliebte Sitte, die Anhängung lateinischer Endungen an deutsche Wörter, erinnert auch der Ausdruck Pickus (zu picken = essen) für das Essen (als Gericht), namentlich für warme Speisen.

Ein sog. Lehnwort aus dem Slavischen ist unsere Jauche, bei den Kunden jetzt ein Schimpfwort für die Zuchthaussuppe, ursprünglich aber wirklich nur soviel wie „Brühe, Suppe“ ohne den jetzt üblichen schlechten Nebensinn (vergleiche polnisch jucha, lateinisch jus). Auf das Englische ist endlich Twist für Brot zurückzuführen (eigentlich = Kautabak, mithin tertium comparationis: das Kauen).

Die rein deutschen Kundenausdrücke für Speisen und Getränke gehen zum Teil schon in recht hohes Alter hinauf, so besonders Plempe(l) oder Blembel für Bier (Rotwelsch 1687), womit wir heute bekanntlich ein „schales Getränk jeder Art“ bezeichnen, und Schnalle für Suppe (zu schnallen = „geräuschvoll schlurfen“). Schabau, früher für Bier, jetzt für Schnaps gebräuchlich, gehört zu „schaben“ (mhd. scaban, daher Scabinus = „Fusel“ in Rotwelsch 1724 )- Erst ganz modern sind Flapsch für Mittagessen und Knacke (zu „nacken“) für Butterbrot, das aus Berlin stammt.

Die auf die typischen rotwelschen Endungen -ling, -rot und -(e)rich auslaufenden Wörter treten in der Kundensprache heute nicht mehr stark hervor; doch sind z.B. Schwimmling oder Hechtling für den Hering, Rundlinge für Kartoffeln, weiter auch wohl Flohsekt für Wasser und das etymologisch dunkle (vielleicht aus hebräisch gelina bezw. aram. gewe[n]t[t]â zurechtgeformte) Fennerich oder Fendrich (rotwelsch gar Fähnrich) Für den Käse noch jetzt übliche Bezeichnungen. […]

Von den als „partes pro toto“ zu bezeichnenden Sprachgebilden ist Plattfuß für Gans oder Ente schon in der älteren Kundensprache anzutreffen. […] Eigentümlich erscheint Darmen für Wurst, da ja doch nicht die äußere Umhüllung derselben, sondern deren Inhalt die Hauptsache ist, die Fettigkeit, wie ein abstrakteres Synonym für denselben Begriff heißt.

Auf die Wirkungen des Schnapses beziehen sich zwei Ausdrücke: Lötwasser auf die vermeintlich gute, Gift auf die tatsächlich schädliche; ganz neutral und harmlos dagegen erscheint dafür Saft. Eine verächtliche Färbung haben Bankerottbrühe (oder Schatulienbrühe) für Kaffee, Leichenbrühe für Sahne, Athletenfutter für saure Heringe und Kartoffeln (soldatisch: Reis), Elefantensuppe für Reissuppe und Scheibenkleister für Mehlsuppe.

Einige dieser Kraftworte (wie besonders Leichenbrühe, nach der Farbe, wozu zu vergleichen auch Leichenkäse) berühren übrigens schon das Gebiet der sog. Metaphern, d.h. der auf Vergleichen beruhenden Begriffsübertragungen. Am wenigsten fallen darunter noch diejenigen auf, wo es sich auch bei den als Gleichnisse herangezogenen Dingen um Nahrungsmittel, wenn auch anderer Art oder Gattung, handelt, so wenn wir den Hering einen gesalzenen Bauernkarpfen oder die saure Gurke ein vegetarische Wurst nennen.- Seitenstücke aus der Kundensprache sind dazu: für Kartoffeln Erdweinbeeren oder Feldhühner (auch Erdtauben) und für den Hering Schneiderkarpfen, d.h. ein Karpfen, wie ihn sich auch ein armes Schneiderlein einmal leisten kann.

Von weiblichen Vornamen ist - abgesehen von Kar(o)line für die Schnapsflasche - nur noch Maria in der ganz eigentümlichen salzartigen Verbindung: Maria zu lieben für Brotsuppe zu erwähnen. Wenn hier nicht etwa eine „volksethymologische“ Andeutschung irgend eines mit Maso-Brot gebildeten Fremdwortes vorliegt, so darf man vielleicht vermuten, daß die Bezeichnung aus katholischen Gegenden herstammt und sich zunächst auf eine Art Klostersuppe bezogen hat, die mit der Widmung: „(der Jungfrau) Maria zuliebe“ ausgeteilt worden.


L. Günther, Etwas von der Speisekarte des Vagabunden, Münchener Neueste Nachrichten Nr. 573, 1911.

=> Kundensprache, Rotwelsch


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